Heiliger Bimbam – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
ruckartig aus seinem Sessel auf, schob die langen, knochigen Hände in die Taschen und ging zum Fenster. Er drehte sich um und sah die anderen drei an, bevor er weitersprach.
»Was hat er gesehen, als er allein in der Kathedrale war? Was hat er dort entdeckt, das sonst niemand entdeckt hat?«
Das Abendessen war vorüber. In geselliger Hinsicht war es kein Erfolg gewesen. Die Ereignisse der letzten zwei Tage bedrückten die Anwesenden so sehr, daß die Unterhaltung schleppend, halbherzig verlief, stets darauf bedacht, das auszuklammern, was alle in Gedanken beschäftigte. Selbst auf den sonst jovialen Peace, der vom Haus des Praecentors zum Essen herübergekommen war, schien sich die Stimmung auszuwirken, denn er sank nach einleitendem Geplauder in ein Schweigen, aus dem er nur gelegentlich auftauchte, um verschreckt etwas zu erwidern, wenn er angesprochen wurde. Frances hielt das Gespräch noch gerade so in Gang, daß weder offene Verlegenheit noch Unbehagen aufkam.
Der Praecentor war nicht erschienen, daher waren sie zu acht am Tisch – Frances, Garbin, Spitshuker, der junge Geistliche Savernake, den sie im Zug getroffen hatten, Geoffrey, Fielding, Peace und der zweite Organist Dutton, ein auffallend schüchterner junger Mann mit einem breiten weißen Gesicht, das mit orangefarbenen Sommersprossen übersät war, und einem blaßbräunlichen Haarschopf, durch den er sich ständig mit den dicklichen Fingern fuhr. Nach dem Essen sollte eine Art inoffizielle Besprechung der Kathedralenbediensteten stattfinden (ohne den Dechanten, der normalerweise die Besprechung geleitet hätte, aber verhindert war) – anscheinend um die Auswirkungen der Brooks-Geschichte zu erörtern, obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wurde. Der Praecentor, Frances’ Vater, auf den Geoffrey neugierig war, wollte zu der Besprechung kommen, ebenso wie der Kanzler Sir John Dallow. Geoffrey erinnerte sich plötzlich an die Geschichte mit Josephine, die das Manuskript des Praecentors verbrannt hatte, und fragte sich, warum das Mädchen nicht auch da war. Als er sich beiläufig bei Frances erkundigte, erfuhr er, daß Josephine nach Hause gegangen sei.
Geoffrey saß neben Savernake, aber die Bekanntschaft machte wenig Fortschritte. Nach einem überraschten Wiedererkennen, als man ihm Geoffrey vorstellte, verhielt sich der junge Geistliche wortkarg und nervös. Geoffrey, der es schließlich wagte, die Situation unverblümt anzusprechen, sagte:
»Die Polizei hat die Kathedrale doch sicherlich gründlich durchsucht, nicht wahr?«
Savernake nickte. »Gründlich – sogar sehr gründlich.« Er sprach übertrieben gedehnt, was häufig fälschlicherweise für den Oxford-Akzent gehalten wird. »Aber natürlich hat es nichts gebracht. Niemand wird das finden, was es dort zu finden gibt – wenn er nicht allein dort bleibt, wie Brooks.«
»Und dann –?« Geoffrey ließ den Rest der Frage unausgesprochen. Doch Savernake zuckte nur mit den Achseln, ließ beunruhigend die Gelenke seiner langen, dünnen Finger knacken und lächelte.
Garbin und Spitshuker führten ein kontroverses Zwiegespräch über irgendeine obskure theologische Frage, das bis nach dem Essen dauerte. Peace, Frances (von der Geoffrey bedauerlicherweise weit entfernt saß) und Fielding diskutierten über ein aktuelles Theaterstück in London. Dutton schwieg die meiste Zeit, warf ab und an verzweifelte Bemerkungen in irgendeine Unterhaltung, die an sein Ohr drang. Wahrlich kein anregendes Abendessen.
Der Kaffee wurde im Salon serviert. Als sie eintraten, Garbin und Spitshuker noch immer halblaut disputierend, erhob sich ein kleiner, unglaublich dünner alter Mann mit einer spitzen Nase, kleinen Knopfaugen, die den Blick anderer immer nur ganz kurz erwiderten, und einem Kranz spärlicher, strähniger weißer Haare – Sir John Dallow, Kanzler der Kathedrale. Wenn er redete, sprach er abwechselnd mal schnell, mal schleppend. In seinem Auftreten ähnelte er Spitshuker einerseits und andererseits auch wieder nicht. Er hatte die gleiche unaufhörliche Gestik, die gleiche Unruhe und das übertriebene Posieren. Doch während das alles bei Spitshuker Ausdruck von Energie war, schien es bei Dallow eher auf neurotische Nervosität hinzudeuten. Als Geoffrey die beiden Männer betrachtete, fiel ihm kein besserer Vergleich ein als der, daß Dallow ein Winkel und Spitshuker eine Kurve war; und das, so dachte er amüsiert, lag nicht nur an ihrer unterschiedlichen Körperfülle, sondern auch an allem
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