Heiliges Feuer
sie gebrochen deutsch sprach - als zweifelte sie mit einem Mal an ihrer Intelligenz.
Der Zug fuhr so geschmeidig und lautlos an, wie ein Schlittschuh übers Eis gleitet. Die Plätze waren zu zwei Dritteln besetzt. Klaudia musterte jeden einzelnen Passagier mit der unverhohlenen Neugier der Deutschen. Plötzlich stupste sie Maya mit dem Ellbogen an. »Na, Maya!«
»Was ist denn?«
»[Siehst du die alte Dame mit dem Polizeihund und dem Jungen dort drüben? Das ist die Präsidentin von Magyae Koztarsasag.]«
»Die Präsidentin wovon?«
»[Von Ungarn.]«
»Oh.« Maya schüttelte den Kopf. »Ich weiß, man soll heute alle Leute bei ihren richtigen Namen nennen, aber ungarisch zu sprechen scheint mir zu viel verlangt.«
»[Sie ist eine bedeutende Politikerin. Du solltest dich bei ihr nach der Zugangsadresse ihres Publicity-Palasts erkundigen.]«
»Ich? Ich bin so müde«, erwiderte Maya.
»[Sie ist eine bedeutende Politikerin. Sie spricht bestimmt englisch. Schade, dass du so schlecht gekleidet bist. Ich wünschte, ich wüsste ihren Namen. Du könntest mich mit ihr zusammen fotografieren.]«
»Wenn sie wirklich eine Politikerin ist, wird sie es zu schätzen wissen, dass wir ihre Privatsphäre respektieren.«
»[Wieso?]« fragte Klaudia skeptisch. »[Politiker hassen alles Private. Regierungsleute haben mit Privatsphäre nichts am Hut.]«
Maya gähnte. »Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich fühle mich fix und fertig heute. Mir ist ganz flau. Ich glaube, ich mache ein Nickerchen ...«
»[Ich hol dir was]«, erbot sich Klaudia mit funkelnden Augen und bewegte die Füße in den hochhackigen Schuhen. »[Einen Aufguss. Wie wär’s mit Koffein?]«
»Koffein? Das macht doch süchtig. Und ist die Wirkung nicht unheimlich stark?«
»[Wir haben heute unseren freien Tag! Lass uns mutig sein! Trinken wir Koffein, bis wir sternhagelvoll sind! Wir werden den ganzen Tag in Prag rumlaufen! Prag, die Goldene Stadt!]«
»Okay«, sagte Maya, ließ sich in ihren pastellblauen Sitzsack sinken und klopfte sich gegen das Bündchen. »Nur zu. Hol mir etwas…«
Maya entspannte sich in der wohligen Tiefe des Sitzsacks und blickte zur Wagendecke hoch. Ein leere, glänzende Metallfläche. Dieser Wagen war wirklich antik. Er war für Werbung gebaut worden, bevor man die Werbung weltweit verboten hatte. Zwischen den kahlen Bäumen am Schienenrand hindurch fielen Sonnenstrahlen an die funkelnde Decke. Blitz, blitz, blitz.
Sie erwachte aus dem Schlummer mit einem bohrenden Schmerz hinter den Augen. Irgendetwas tat ihr im Ohr weh. Sie nahm es heraus. Ein Ohrhörer. Die Haut darunter war ganz wund, als trüge sie das Ding schon seit Wochen. Sie hielt das kleine Gerät in der Hand, starrte es verständnislos an, dann ließ sie es auf den Boden fallen ... Was hatte sie da eigentlich an?
Sie trug eine rote Jacke über einem langärmligen, tief ausgeschnittenen Hemdkleid, ein hautenges Teil, das wie Spitze und Schlangenhaut an ihr klebte. Das Kleid endete in der Mitte des Schenkels. Darunter trug sie eine metallische Hose und Halbstiefel mit hohen Absätzen.
Mia erhob sich schwankend. Sie wankte in den grotesken Stiefeln den Mittelgang entlang. Ihre Zehen waren zusammengequetscht, und die Knöchel taten ihr weh. Sie hatte ein sehr eigenartiges Gefühl - sie war ausgehungert, hatte Kopfschmerzen und fühlte sich richtig mies.
Sie befand sich zusammen mit zwanzig bis dreißig Fremden in einem Zugabteil. Am Fenster raste mit erschreckender Geschwindigkeit eine unbekannte Landschaft vorbei.
Ihr wurde ganz mulmig zumute; sie erlebte eine jähe Identitätskrise und einen Kulturschock, sodass sie schwankte und ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Dann ließ das Schwindelgefühl nach, und auf einmal fühlte sie sich vollständig verwandelt.
Sie war Mia Zeemann. Sie war Mia Ziemann und reagierte sehr eigenartig auf die Behandlung.
Ein Hund starrte sie an. Es war der Polizeihund der ungarischen Präsidentin. Der Hund hockte auf seinem Sitzsack am Rand des Mittelgangs und wirkte sehr tüchtig in seiner mit Riemen und Knöpfen versehenen Polizeiuniform. Mit wachsam aufgestellten Ohren fixierte er Mia.
Neben dem Hund saß die ungarische Präsidentin mit einem zehnjährigen Jungen. Sie zeigte dem Jungen etwas auf dem Bildschirm ihres Notebooks, deutete mit einem VR-Stab in die virtuelle Tiefe, ein schlankes, elegantes Zugangsgerät, das aussah wie ein Essstäbchen aus Elfenbein. Der Junge blickte vertrauensvoll und fasziniert auf den
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