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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Bildschirm, und die Präsidentin erklärte ihm mit sanfter Stimme etwas auf ungarisch.
    Die alte Frau hatte erstaunliche Hände. Faltige, grobe, starke Hände. Ein Gesicht voller Charakter, ein postmortales Gesicht. Das Gesicht einer willensstarken, sehr gesunden, sehr intelligenten Frau, die hundertzwanzig Jahre alt war, viel Elend gesehen, zahlreiche schmerzhafte Entscheidungen getroffen und alle Illusionen, aber niemals die Selbstachtung oder ihre Hilfsbereitschaft verloren hatte.
    Die Dame sprach bestimmt englisch. Sie war eine europäische Intellektuelle, sie sprach bestimmt nicht nur englisch, sondern beherrschte auch noch fünf oder sechs weitere Sprachen. Sie strahlte Autorität aus - nein, sie war eine Autorität. Also würde Mia diese heiligmäßige Frau um Hilfe bitten und sagen, ich bin krank, ich bin hungrig, ich bin schwach, ich habe mich verlaufen, ich bin weggelaufen, ich habe unredlich gehandelt und all meine Verpflichtungen vernachlässigt, ich habe etwas Schlimmes getan, und es tut mir Leid. Es tut mir ja so Leid, bitte helfen Sie mir.
    Und die Präsidentin würde sie ansehen und sogleich Herrin der Situation sein. Sie würde weder verlegen noch verärgert reagieren, sondern sehr weise, und sie würde genau wissen, was zu tun sei. Die Präsidentin würde sagen: Meine Liebe, beruhigen Sie sich, setzen Sie sich einen Moment, natürlich werden wir Ihnen helfen. Man würde Netzkonferenzen abhalten, Erklärungen abgeben, sie bekäme Rat und Hilfe und etwas zu essen und einen warmen, sicheren Platz zum Schlafen. Und die zerfledderten Fetzen ihres Lebens würden wieder zusammengeflickt werden und Mia Ziemann in einen großen, warmen Umhang des offiziellen Verzeihens und der Gnade hüllen.
    Sie stolperte vorwärts.
    Der Hund sagte etwas auf deutsch.
    »Wie bitte?«, sagte Mia.
    Der Hund wechselte ins Englische. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss? Soll ich den Steward rufen? Sie riechen ein wenig aufgeregt.«
    Die Präsidentin lächelte Mia höflich an.
    »Nein«, sagte Mia, »nein. Es geht mir schon wieder besser.«
    »Ein hübsches Kleid. Wie heißen Sie?«, fragte die Präsidentin.
    »Maya.«
    »Dieser reizende junge Mann ist Laszlo Ferencsi«, sagte die Präsidentin, dem Jungen die Schulter tätschelnd.
    »Ich habe im Aufsatzwettbewerb gewonnen!«, platzte Laszlo auf englisch heraus. »Den heutigen Tag darf ich mit der Präsidentin verbringen!«
    Maya schluckte mühsam. »Das ist ja toll. Da kannst du wirklich stolz sein.«
    »Ich bin die Zukunft«, erklärte Laszlo schüchtern.
    »Ich bin ein großes Straßenkind«, erwiderte Maya. Sie tappte zur Toilette, kniete mit quietschenden Strümpfen auf dem Boden nieder und würgte, doch es kam nichts heraus.
    Klaudia fand sie auf der Damentoilette, schleppte sie heraus und nötigte sie zum Essen. Als die Kraftbrühe in ihren Kreislauf überging, begann Maya sich wieder besser zu fühlen.
    Klaudia drückte Maya behutsam den Übersetzer ins Ohr. »[Als ich den Übersetzer fand, wusste ich, dass du in Schwierigkeiten bist ... Nur gut, dass Therese mich als Aufpasserin mitgeschickt hat!]«
    Maya tupfte sich kalten Schweiß von der Stirn. »Kaninchen haben solange keine Probleme, bis sie sich richtig postkaninchenhaft verhalten.«
    »[Kein Wunder, dass Eugene dich mag. Du redest genauso verrücktes Zeug wie er. Du solltest bei der Party heute Abend besser in meiner Nähe bleiben. Diese Kunsthandwerker sind ziemlich eingebildete Käuze.]«
    Maya blickte aus dem Fenster und löffelte farblose Brühe. Es war ein gutes Gefühl, jemand anders zu sein. Wieder man selbst. Lebendig. Es war viel, viel wichtiger, lebendig zu sein, als eine bestimmte Person. Der dichte böhmische Wald draußen vor dem Fenster, die Bäume schlugen bereits aus. Dann glitten sie mit hoher Geschwindigkeit auf skelettartigen Bögen lautlos über intensiv bebaute grüne Felder hinweg. Künstlich bewässerte Anpflanzungen hoch aufragender Manschettenpilze.
    Die riesigen Pilze waren keine Pflanzen. Diese biotechnischen Erzeugnisse waren so konstruiert, dass sie Luft, Wasser und Licht mit einem bislang in der Natur unbekannten Wirkungsgrad in Fette, Kohlenhydrate und Proteine umwandelten.
    Ein Feld von Manschettenpilzen konnte eine kleine Stadt versorgen. Die Pilze waren zwei Stockwerke hoch: grün, blattlos, eckig geformt und so porös wie ein Schwamm. Hatte man sich an den Anblick dieser monströsen Gebilde erst einmal gewöhnt, wirkten sie sogar recht hübsch. Und das war gut so, denn sie

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