Heimaturlaub
bürgerliche Ruhe strahlte der Raum aus, und der Duft eines guten Weins stieg den Neugekommenen köstlich in die Nase.
Ein Kellner ohne Frack, in der bunten Tracht eines Winzers, trat hinzu, setzte ohne Frage eine Karaffe auf den Tisch und ging still, wie in Selbstbetrachtungen versunken, wieder von dannen.
Wüllner legte den Arm um Hildes Schulter, prostete ihr stumm zu und drückte ihr nach dem Trunk einen zarten Kuß auf die kühlen Lippen.
Hilde schloß die Augen.
»Wie still es hier ist«, sagte sie andächtig. »Keine laute Musik, keine künstliche Fröhlichkeit und eitle Selbstbespiegelung … nur Besinnlichkeit und Frieden …«
»Du liest wohl keine Zeitungen?« fragte Heinz Wüllner. »Gerade habe ich in einer Zeitschrift gelesen, solche Lokale seien Brutstätten des Individualismus, letzte Zuflucht bürgerlicher Spießer, die dem angloamerikanischen judenverseuchten Kapitalismus nachtrauern und die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ablehnen.«
Da war er wieder bei seinem Thema. Da brach es wieder aus ihm heraus. Er konnte eben nicht aus seiner Haut. In wenigen Minuten würde er wieder ein riesengroßer lümmelhafter Junge sein. So ein richtiger Schnösel!
Hilde mußte lächeln und strich ihm über die erhitzte Stirn, als wollte sie sagen: Sieh, was der Wind kann, das kann ich auch.
»Mein Schnöselchen!«
Nur zwei Worte, aber ihre ganze Liebe war darin enthalten.
Wüllner blickte in ihre großen Augen.
»Schnöselchen? Wieso?«
»Du bist ein Lümmel und ein Mann – beides auf einmal, und oft weiß man nicht, was man mehr lieben soll: den Lümmel, der so lustig und frech ist, oder den Mann, der über Gott und die Welt redet und so hoch über allen Problemen steht! Und da nehme ich mir eben etwas davon, das ich lieben kann: mein Schnöselchen.«
Und sie fuhr ihm wieder durch die ergrauten Locken wie ein wildes Kind. Ihre Zähne blitzten zwischen den roten Lippen, und das Leuchten ihrer Augen paßte gut zu ihren goldenen Haaren.
Heinz ergriff ihre Hand und wollte etwas Liebes sagen, da fiel ein Schatten auf den Tisch und vor ihnen stand, mit dem Rücken gegen das Licht, ein Mann.
Wüllner blickte gereizt auf und wollte verärgert eine Frage stellen, da blieb ihm der Ton in der Kehle stecken. Entsetzt, wie einen Geist, schaute er den Fremden an.
Langsam streckte er seine Hände aus, und seine Stimme war auf einmal dunkel und schwer.
»Friedrich …? Du?«
Der Fremde nickte.
»Du erkennst mich noch?«
Wüllner hatte sich erhoben.
»Wo kommst du denn her?«
»Aus der Hölle.«
Hilde fror. Eiskalt lief es ihr über den Rücken bei diesen Worten, obwohl sie nicht wußte, was der Fremde meinte.
Heinz schüttelte ihm die Hände und deutete dann auf Hilde: »Darf ich dir Fräulein Brandes vorstellen. – Friedrich Borgas, ein alter Freund von mir, Bildhauer.«
Hilde gab ihm die Hand. Leicht zitterte sie in seinen kalten Totenfingern.
»Darf ich mich ein wenig zu euch setzen?« fragte Borgas.
»Was fragst du, alter Knabe, das ist doch selbstverständlich.«
»Nichts ist mehr selbstverständlich, wenn du zwei Jahre in der Hölle saßest. Selbst das Leben nicht mehr. Alles erscheint dir wie eine Gnade nach so einem … so einem Lager.«
Wüllner schenkte ihm in das Glas ein, das der Winzer ohne Aufforderung gebracht hatte.
»Und nun bist du wieder freigelassen?«
»Nur weil ich kapituliert habe. Ich darf nicht sprechen, nicht schreiben, nicht malen – alles darf ich nicht, was mit meinen Erlebnissen zusammenhängt. Sonst holt man den Genickschuß nach, den man an mir sparte. Aber das gnädige Fräulein wollte heute sicherlich einen lustigen Abend erleben. Ich will wieder gehen.«
»Bitte bleiben Sie!« protestierte Hilde. »Heinz und mir zuliebe.«
Friedrich Borgas wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dankbar sah er Hilde an, aber er sagte nichts. Seine Augen sprachen deutlicher als seine Lippen, und diese Augen sagten: Glücklich derjenige, der nicht sah, was ich sehen mußte.
Heinz nahm einen kleinen Schluck.
»Wie ist denn das überhaupt gekommen, Fritz? Das letzte Mal, als wir uns sahen, warst du noch in deinem Berliner Atelier.«
Borgas stierte vor sich hin.
»Wie das alles gekommen ist? Weiß ich's selbst? Es war vielleicht Dummheit, vielleicht auch Lebensblindheit … auf einmal war's geschehen. Du weißt ja, meine fruchtbarste und schönste Zeit als Bildhauer war vor 1933, ich hatte ein gutes Atelier im Westen von Berlin. Meine Kundschaft bestand aus
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