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Heimaturlaub

Heimaturlaub

Titel: Heimaturlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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werdende Spannung und ein Schwanken, und das gab diesem Großstadtkolorit den Anstrich eines expressionistischen Gemäldes.
    Borgas winkte Wüllner zu:
    »Laufen wir, Heinz?« rief er. »Es ist zwar noch ein ganzes Stück, aber es lohnt sich, diese Straßen zu gehen. Man sammelt Menschenkenntnis. Der alte Zille wußte das und ging unters Volk … er hatte recht. Nirgends lernt man eine Großstadt und ihre Menschen so kennen wie am Abend auf den Straßen, Plätzen, in den Haustüren und aus dem Lärm, der aus den Fenstern tönt. Wer hat bisher gewußt, daß es hier Straßen gibt, wo die Nachttöpfe aus dem Fenster geschüttet werden? Entschuldigen Sie, Fräulein Brandes, aber es entspricht der Wahrheit. Andere Straßen haben die Angewohnheit, sich des Nachts von Fenster zu Fenster anzukeifen. In einer Straße im Westen wohnt ein Mann, den man in Berlin mit Ehrfurcht nennt, der jeder Dirne fünf Mark gibt, wenn sie vor seinem Haus auf allen vieren vorbeikriecht. Weiter nichts, nur kriechen! Jede Nacht stehen vor seiner Tür die Dirnen, die so billig zu ihrem Geld kommen, während der bekannte Mann dick und jovial am Fenster sitzt und sich köstlich amüsiert über die Kriecherei der Weiber. Das ist nun mal die Großstadt, die Laster- und Freudenhöhle der Menschheit, das Babel der Gelüste und des Leides.«
    Nach einem längeren Spaziergang bogen sie in eine düstere Nebenstraße ein, in der es nach altem Kohl, Fisch, stehendem Wasser und ungewaschenen Windeln stank. Aus den Fenstern kam Gequäke unterernährter Säuglinge. Halbwüchsige standen in den Fluren, schäkerten mit Mädchen, die selbst noch im Kindesalter standen, Weiber keiften und grölende Stimmen dröhnten aus einem der Bierkeller. Aus dem Fenster einer Mietskaserne tönten das Gekreische einer Frau und das Klatschen von Schlägen, während eine Kinderstimme schrie: »Papa, du schlägst die Mama ja tot!« Wäsche hing aus den Fenstern, schmutzig, zerrissen, durchlöchert; verwanzte Matratzen lagen in der Gosse, auf denen ein Liebespaar sich fröhlich balgend wälzte; statt der Fenster hatte man Pappe oder Holz in die Rahmen genagelt, und dazwischen standen einige Töpfe mit stinkendem Fraß, in denen eine alte Frau mit dreckigen Fingern rührte. Auf der Straße verhandelte eine Dirne laut mit einem Mann in einer blauen Arbeitshose, der gestern seine Löhnung erhalten hatte und heute den Preis für eine Nacht um 50 Pfennig herunterzuhandeln versuchte; ein Greis saß vor einer Kellerwohnung und rauchte in einer langen Pfeife ein bestialisches Kraut, und über allem, quer über die Straße gespannt, hing ein Transparent, auf dem zu lesen stand: Deutschland wird schöner werden! Nirgendwo waren Wirklichkeit und Zielsetzung weiter auseinander …
    Borgas verhielt seinen Schritt und blickte sich um. »Schön, nicht wahr? Man wettert in unserer Presse gegen die Slums und verurteilt die Sozialisten. Was ist das hier? Will man es nicht Slums nennen, so ist es doch eine Schande des Menschen; eine Unwürdigkeit, die zum Himmel schreit. Aber in allen Büchern und Zeitungen steht: Dr. Ley verspricht jedem Arbeiter sein eigenes Häuschen!«
    Wüllner und Curtius sagten nichts, sie bissen nur die Zähne aufeinander und trotteten weiter.
    Hilde blickte auf zwei total verschmutzte Mädchen undefinierbaren Alters, die laut grölend auf der Straße herumtollten und sich einen Ball zuwarfen.
    »Das ist ja furchtbar«, flüsterte sie, »das ist grauenhaft. Und was tut man dagegen?«
    »Schreiben«, entgegnete Heinz Wüllner dumpf. »Schreiben, schöne Artikel, schöne Bücher, umfangreiche Journale. Man verspricht Arbeit, Brot und Sozialismus, man füllt Bibliotheken mit diesen Theorien. Sie werden gut bezahlt, diese Bücherschreiber, man wird reich damit, kann sich eine Villa leisten … aber die, über die man schrieb, leben weiter in Schmutz und Wanzen, essen weiter ihre stinkende Kohlsuppe und schätzen sich glücklich, wenn es ihnen ihr Wochenlohn erlaubt, aus dem Stall der Wohnung, aus dem Geplärr der Kinder auszubrechen und einen Abend für sich zu haben. Hier ist die Wurzel des größten Übels im Staat … hier müßte ein Reformator ansetzen und seine Kunst der Menschenleitung zeigen, nicht im Bau von Palästen und Berghöfen, von Hotels, Ehrentempeln, Aufmarschfeldern und Jagdsitzen.«
    Plötzlich machte Borgas vor einem großen Haus halt und zeigte an der Hauswand empor:
    »Dort oben ist meine Bude. Ihr werdet staunen, in welcher Umgebung ich hause.«
    Damit

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