Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
alles, alles vergessen, welche Gnade an solch einem Tag!
Ich springe hoch, reiße die Knie unters Kinn, die Arme in die Luft, die angestrengt zu mir herauflächelnden Frauen geben alles, um mir nachzueifern, doch auch im hilfreich widerständigen Wasser können sie keine großen Sprünge machen. Wodurch meine freilich noch größer werden, fünf Minuten in der Aquagymnastik und ich nähere mich Höhen, die kein Vogel je erflog! Das überkommene Fleisch in seinen erbärmlich hübschen Badeanzügen strebt zu mir empor, ich werde es nicht erlösen, denn ich bin Arzt, großes Mitleid und große Verachtung sind mir eins, ich habe alles hinter mir gelassen, kann frei atmen, endlich, Hyperboreer für einen Moment – wie viel man unter sich fühlt!
Zu allem herrlichen Überfluss öffnet sich nun auch noch die gläserne Decke über uns, die spätnachmittägliche Maiensonne ist kräftig genug, um die witternde Automatik in Gang zu setzen, sirrend schiebt sich das starre Verdeck zur Seite auf die angrenzende Zimmerdecke und gibt uns für ein paar Minuten dem luftigen Himmel frei. Ich werfe den Kopf in den Nacken, lächle blinzelnd dem Sonnenvater entgegen, und schon heben mich meine Arme in den finalen Adlerflug – und Abbruch, wie immer an dieser Stelle, das Tempo der Bumsmusik wechselt und ich wechsle die Übung. Beine im Sprung grätschen und wieder schließen, synchron Arme über dem Kopf öffnen und schließen, Referent augenblicklich wieder in die Pflicht genommen, blickt zufällig in spiegelnde Glaswand gegenüber und sieht zu seiner Verwunderung einen Hampelmann in Weiß.
Alle Ausflüchte vor sich selbst liegen im Spiegelbild begründet, das weiß jedes Kind und kann doch nicht von ihm lassen, und dass diese Ausflüchte nun mal keine Auswege sind, spricht nur für sie, macht sie umso gangbarer. Aber wenn man alle bösen Wege hinter sich hat wie wir Ärzte hier, dann ist dieses Bild endlich einfach das, was es zu sein scheint, eine ganz ausgezeichnete Wiedergabe, die uns der Gegenwart wieder zurückgibt, ein hervorragendes Hilfsmittel für die alltägliche Korrespondenz mit den gegebenen Umständen, und mit dem gefliesten Boden unter den Füßen spüre ich plötzlich auch meine brennenden Muskeln, kann daher nun mit ganzer Muskelkraft gegen meine Muskeln anarbeiten und bin so wieder mit mir eins. Mir scheint sogar, wenn ich jetzt, in diesem Moment, schreiben könnte, dann könnte ich sogar schreiben, ja dann könnte ich meinen Bericht einfach so runterschreiben.
Es kann doch gar nicht so schwierig sein, man muss nur den Anfang finden, man muss nur … auf einem Bein stehen und den Oberkörper abwechselnd nach rechts und links rotieren, nicht schummeln, ladies, die Hüfte bleibt schön hier bei mir! , und die Arme in der Drehung lang zur Seite ausstrecken, Brustbein hebt, Schultern tief! Stolz und schön! , naja, eher sterbende Nilpferde als Schwäne … nur den Anfang finden, und wo ich den mache, damit muss ich nicht länger hadern, natürlich an dem Tag, an dem ich hier ankam, und nicht vorher. Keinen Tag vorher. Arme lang! Such die Länge! Denn da ich nur über mein ärztliches Handeln hier am Haus Rechenschaft abzulegen und nicht meine ärztliche Existenz an sich zu rechtfertigen habe, werde ich zwar die letzten knapp zwanzig Jahre offenlegen, so offen wie die Gedärme des jungen Kollegen, dem ich in meinem ersten Jahr ein riesiges, quadratisches Loch in die Bauchdecke fräsen musste, um sein Herz, das sich im Unterbauch bereits zu zersetzen begonnen hatte, zu retten, aber nicht dahinter zurückgehen.
Die Umstände, die mich hierher gebracht haben, sind der Klinikleitung schließlich bestens bekannt, besser als mir, möchte ich meinen, und sie will sicher genauso wenig wie ich an sie erinnert werden. Oder geht es doch auch darum, meine Sicht auf diese Umstände darzulegen – um das persönliche Moment hinter den Daten und Fakten, um meine emotionale Perspektive? Das könnte ja aufschlussreich sein für meine Haltung meiner Position gegenüber, beziehungsweise für die Frage, inwieweit sich mein ärztlicher Prozess als glücklicher Verlauf beschreiben lässt. Aber andererseits steht nichts von derlei Rückgriffen in den Berichtleitlinien, und wo sollte man da auch anfangen? Bei seiner Geburt, der Geburt seiner missratenen Eltern? Das ist natürlich eine unsinnige Ausrede, ich weiß genau, wo alles begann. Es begann, als wir uns kennenlernten, klassisch, monster meets girl , Exposition und Vollendung in einem,
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