Heinichen, Veit - Proteo Laurenti 01 - Gib jedem seinen eigenen Tod
Er stopfte sich das neue Hemd in die Hose und rannte los. Knapp grüßte er die junge Polizistin, die in der Eingangshalle mit den Marmorwänden, auf denen mit Kupferbuchstaben die Namen der seit den dreißiger Jahren im Dienst umgekommenen Polizisten angebracht waren, von einer Empore aus darauf zu achten hatte, daß kein Unbefugter das Gebäude betrat. Ihr Gesicht erinnerte Laurenti immer an eine Faschistin, die bei einer der Massenverhaftungen die Opfer des Willkürakts bespuckte. Das war im Triest des Jahres 1944. Die Fotografie hatte er einmal in einem Bildband über jene Jahre gesehen und nie vergessen können.
Der Aufzug war wieder einmal außer Betrieb, also mußte Laurenti die Treppen nehmen. Was für ein Leben, welche Ungerechtigkeit. Außer Atem kam er im Vorzimmer des Questore an. Die Sekretärin begrüßte ihn lächelnd und mit einem Blick auf die Armbanduhr.
»Neues Hemd?« Die Bügelfalten waren nicht zu übersehen, und an einer Manschette baumelte noch ein Schildchen. Sie schnitt es mit der Schere ab. »79000 Lire, nicht schlecht!«
»Ah«, Laurenti stutzte. »Haben die schon angefangen?«
»Keine Sorge, der Colonello ist auch eben erst eingetroffen.«
»Ist er wieder in Uniform?« fragte Laurenti.
»Natürlich! Sieht aus wie der Weihnachtsmann persönlich«, spottete die Sekretärin des Questore.
Laurenti verdrehte die Augen und winkte ihr mit der linken Hand, während er die Tür zum Büro des Chefs öffnete.
»Verzeihung und guten Abend«, murmelte er und suchte einen freien Stuhl. Auf dem neuen blauen Hemd hatten sich zwei kleine dunkle Flecken abgezeichnet, die langsam wuchsen. Er beugte sich ein wenig vor in der Hoffnung, daß Stoff und Haut auf diese Weise nicht großflächig in Kontakt miteinander kamen, und spürte plötzlich ein Zwicken am Rücken. Eine Nadel, schoß es ihm durch den Kopf, Blut im Präsidium.
»Dann können wir anfangen«, sagte der Questore. »Es gibt eine gute Nachricht, wegen der ich Sie nicht hergebeten habe, die aber doch verdient, erwähnt zu werden: Die EU hat beschlossen, daß Triest Umschlagplatz für die Türkei-Hilfe sein wird. Wir sind ohnehin der größte türkische Hafen nach Istanbul, und unsere Spediteure haben offensichtlich eine gute Lobby. Schon ab morgen werden die ersten Hilfsgüter erwartet. Der Molo VII ist groß genug. Aber der Fernverkehr wird deutlich zunehmen, und es wird nicht ohne Staus abgehen. Die Stadt kann zeigen, daß sie gut organisiert ist, und wird vermutlich am Unglück der anderen viel Geld verdienen.
Aber der eigentliche Grund dieser Besprechung ist die extreme Zunahme illegaler Einwanderung an unseren Grenzen im Nordosten. Allein in diesem Monat verzeichnen wir fünfzig Prozent mehr Festnahmen als im Vorjahr. Seit die Behörden in Apulien ihre Maßnahmen verstärkt haben, suchen die Schleuser nach Alternativen. An die Dunkelziffer will ich gar nicht denken. Betroffen ist die ganze Grenze bis Villach, aber ausgerechnet unser Abschnitt, von Muggia bis Gorizia, scheint von großem Interesse zu sein. Der Karst ist in vielerlei Hinsicht ideal. Ich habe Sie hergerufen, meine Herren, weil wir unsere Kräfte koordinieren und die Kontrollen verstärken müssen.«
Am Tisch saßen der Colonello der Carabinieri, der Maggiore der Guardia di Finanza, der Primo Dirigente der Vigili Urbani für die Stadtpolizei, ein Maggiore der Guardia Costiera und Commissario Laurenti von der Polizia Statale, stellvertretend für den Vize-Questore, der sich derzeit an einem dalmatischen Strand dringend vom aufregenden Leben in Triest erholen mußte. Der Präfekt, der die Territorialhoheit des Staates vertrat, hatte dem Polizeipräsidenten die Koordination der verschiedenen Sicherheitskräfte übertragen, weil sie bisher viel zu oft aneinander vorbei gearbeitet hatten. Die Carabinieri unterstanden dem Verteidigungsministerium, die Polizia Statale dem Innenressort, und oft genug waren sie Konkurrenten. Es war sogar schon vorgekommen, daß man Spitzel doppelt bezahlt hatte. Nun sollten sie sich also unter der Führung des Polizeipräsidenten koordinieren, was vor allem von Seiten der Carabinieri nur unter anfänglichem Protest geschah, während Laurenti es mit Genugtuung aufgenommen hatte.
»Wenn wir nicht jetzt«, fuhr der Questore fort, »am Anfang, da wir bemerken, daß unsere Grenzen von den Schleusern stärker genutzt werden, etwas tun, um dieses Phänomen einzudämmen, dann haben wir binnen kurzem die Sache nicht mehr im Griff! Im Kosovo, in
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