Heiss wie der Sommer
geringstes Problem“, erwiderte Tyler. „Du wirst sie tragen.“
Kit Carson begrüßte sie schon an der Tür. Vermutlich freute er sich umso mehr, da er jetzt wusste, dass Tyler ihn nur vorübergehend dort zurückgelassen hatte. Nicht, dass Cassie ihn schlecht behandelt hätte. Sie hatte manchmal ein etwas schroffes Auftreten, aber sie war eine sanftmütige Seele mit einem großen Herz für ausgesetzte Hunde. Und für einsame Jungs.
„Sammelst du jetzt nur noch Streuner auf?“, fragte sie, während sie im Schein der Verandabeleuchtung neben Tyler stand und zusah, wie der Junge Kit Carson in den Wagen hob.
Tyler grinste sie an. „Ich führe nur die Tradition fort.“
Stillwater Springs war eine Kleinstadt, und Cassie lebte schon seit Ewigkeiten hier. Sie musste Davie kennen – und auch seine Mutter. Möglicherweise erinnerte sie sich sogar an den Sommer, den Tyler in dem kleinen Zimmer über Skivvie’s Tavern in Doreens Bett verbrachte, als aus dem Jungen ein Mann wurde.
„Ist er dein Sohn?“, fragte sie und bestätigte seinen Gedankengang.
„Könnte sein“, antwortete er. „Seine Mutter streitet es ab, aber dafür kann es Dutzende Gründe geben.“
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel wollte sie vielleicht verhindern, dass ich das Sorgerecht durchsetzte, solange er noch klein war und sie ihn unter Kontrolle hatte“, spekulierte Tyler. „Doreen war immer auf ihre Unabhängigkeit bedacht, und vielleicht existiert davon ja noch ein kleiner Rest in ihr.“
„Das wird dein Leben ziemlich kompliziert machen“, warnte Cassie ihn.
„Vielleicht ist mein Leben längst viel zu unkompliziert geworden“, gab er zurück.
„Gesprochen wie ein echter Creed“, konterte Cassie lächelnd, auch wenn ihre dunklen Augen völlig ernst blieben. „Die Menschen vergessen nicht alles, Tyler. Und jeder – auch Lily Ryder – wird sich daran erinnern, was zwischen dir und Doreen gelaufen ist. Sie werden eins und eins zusammenzählen und sich dann ihre Meinung bilden.“
Tyler seufzte. Niemandem gegenüber hatte er ein Wort über Lily verlauten lassen. Doch Cassie kannte ihn zu gut, als dass er sie hätte in die Irre führen können, nur weil er das bewusste Thema einfach nicht ansprach. „Ist sie mit jemandem zusammen? Hat sie wieder geheiratet?“, fragte er mit belegter Stimme. Er hätte niemandem diese Fragen stellen können, nicht einmal Lily, weil sein Stolz ihm das gar nicht erst erlaubte. Aber Cassie, diese kluge Frau, die von den amerikanischen Ureinwohnern abstammte und in deren Vorgarten ein Tipi stand, war für ihn wie eine Großmutter. Er konnte mit ihr über wirklich alles reden.
„Nein“, antwortete sie und legte eine Hand auf seinen Arm, ein vertrautes Zeichen dafür, dass sie noch etwas hinzuzufügen hatte, was ihm nicht gefallen würde. „Ihr Ehemann war Pilot. Er brachte sich vor zwei Jahren um.“
Selbstmord.
Tyler schloss die Augen, und im nächsten Moment befand er sich wieder in der schlechten alten Zeit, als hätte er soeben eine Zeitreise unternommen. Er fühlte sich wie der Junge, der sich zu Hause hinter der Küchentür versteckte und zuhörte, wie der damalige Sheriff Floyd Book Jake die schreckliche Nachricht überbrachte.
Angie ist tot. Es tut mir sehr leid. Wir haben sie im Skylight Motel am alten Highway gefunden. Es war eine Überdosis, Jake …
Als Tyler daraufhin ein hohes, durchdringendes Heulen hörte, glaubte er, Jake würde es ausstoßen, aber erst als Dylan und Logan ihm unter die Arme fassten und ihn vom Küchenboden hochzogen, wurde ihm bewusst, dass dieses Heulen aus seiner eigenen Kehle gekommen war.
Plötzlich drückte Cassie seinen Arm und holte ihn aus seinen Erinnerungen, die von tausend Fragen heimgesucht wurden.
Fragen, die alle mit dem gleichen Wort begannen.
Warum?
„Was kann denn so schlimm gewesen sein?“, brachte er heiser heraus. „Lily als Ehefrau, dazu Tess als Tochter. Warum wirft ein Mann ein solches Leben einfach weg?“
„Du versuchst wieder, die Dinge zu begreifen“, machte Cassie ihm mit sanfter Stimme klar. „Aber da gibt es nichts zu begreifen, Tyler. Menschen sind zerbrechlich, und ihr Lebenswille kann einfach brechen. So einfach und zugleich kompliziert ist das.“
Versuch nicht, es zu begreifen.
Wie oft hatte er diesen Ratschlag von allen möglichen Leuten zu hören bekommen? Von Dylan, von Logan, sogar von seiner Ehefrau Shawna, als sie versuchte, ihn aus einer tiefen Depression zu holen. Und es war auch nicht das erste
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