Heiß wie der Steppenwind
stützte er sich ab und fing das Gefühl auf, in grenzenlose Tiefen zu stürzen.
»Woher … woher weißt du das, Marko?« fragte er kaum hörbar.
»Ich war dabei, als man sie abholte. Und ich habe in Irkutsk Sadowjew getroffen, der sein Töchterchen suchte. Hätte er zehn Bomben bei sich gehabt – es gäbe keine Behörde mehr in Irkutsk. So aber saß er vor dem KGB-Gebäude, Stunde um Stunde, Tag um Tag und wartete, ob er Dunja sieht. Ich mußte ihn verlassen, um mich um dich zu kümmern. Wer weiß, wo Dunjenka jetzt schon ist? Sie haben eine große Auswahl an politischen Lagern. Da ist Peschlag bei Karaganda, Inta im Norden Zentralrußlands, Workuta an der Koma, wo man das Eismeer riecht, Kamyschlag im Kemerowschen Gebiet bei Omsk, Norilsk oben im Norden, Magadan an der Kolyma und Taischet in der Umgebung von Irkutsk. Und das sind nur die größten.« Er legte seine Hände auf die Finger Pjetkins und streichelte sie. »So ist das, Igoruschka. Die Welt bricht zusammen und doch atmet sie weiter. Mach die Augen auf … die Sonne scheint, der Schnee glitzert, aus dem Küchenwagen quillt der Duft von Kohl. Riechst du es? Und hörst du sie singen … die Toten singen … das ist ein Wunder des Lebens, verstehst du das? Die niedergebrannten Dochte flackern noch … und solange das ist, Igorenka, lebt die Hoffnung. Willst du sie wegwerfen, das einzige Gut der Gefangenen? Mach die Augen auf … wir leben!«
Pjetkin nickte stumm. Er warf den Kopf in den Nacken und starrte in den trüben Schneehimmel. Irgendwo in diesem Grau schwamm die Sonne, vergoldeten sich die Wolken. »Wir werden zu Fuß neben den Wölfen herlaufen«, sagte er leise. »Wir müssen Dunja suchen.«
»Nein, wir müssen uns selbst retten.«
»Was bin ich ohne Dunja, Marko? Kannst du mir darauf eine Antwort geben?«
Godunow sah Pjetkin entsetzt an, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich sehe es ein«, sagte er bedrückt. »Du bist ein doppelter Gefangener. Verdammt schwer wird es sein, da eine vernünftige Freiheit zu finden.«
Sie gingen zum Magazinwagen, stiegen die kleine Holztreppe, die man an die Schiebetür gelehnt hatte, hinauf und wurden dort von dem Konvoibegleiter, dem Genossen Sekretär Ulanow empfangen. Er war ein feister Mensch, der nur von Weibern träumte und auch davon erzählte, aber das waren alle seine Heldentaten, denn in Wirklichkeit war er impotent und ergötzte sich nur an den geträumten Möglichkeiten.
»Das also ist er, Marko Borissowitsch«, sagte er mit einer hellen Stimme. »Der Wunderarzt! Setz dich hin, Genosse und dann friß. Und dann erklärst du mir mal, wieso ein so starker Mann, wie ich einer bin, in der Mitte so schlaff ist. Ich kann das einfach nicht begreifen …«
Gegen Mittag durchlief große Aufregung die Kolonnen. Von Osten her dampfte ein kleinerer Güterzug an und hielt auf dem Nebengleis. Die Soldaten winkten, die Häftlinge aus Chelinograd wurden zu ihren Waggons getrieben und wieder in die Wagen gejagt.
Über der eisernen Wand des Kohlentenders hing Sadowjew, schwarz wie der Teufel, schwitzend und einer verbrannten Brezel ähnlicher als einem Menschen.
V IERUNDZWANZIGSTES K APITEL
Zuerst entdeckte es der Vormann im Küchenwagen II, ein hundertfacher Taschendieb und zum Stammpersonal gehörend. Er schüttete gerade schmutziges Wasser aus dem Fenster, als ihm gegenüber einer der neuen, aus Irkutsk eingetroffenen Waggons hielt und durch die Bretter helle Stimmen und rhythmisches Rufen tönte. »Tür auf! Tür auf! Tür auf!«
Prokow, der Küchenhelfer, ließ den Eimer fallen, warf die Arme hoch in die Luft und brüllte begeistert: »Weiber! Genossen, Weiber sind gekommen!«
Ein solcher Ruf pflanzt sich schneller fort, als ein Telegraf ticken kann. Von Wagen zu Wagen lief die Kunde, an den offengeschobenen Türen ballten sich die Männer und starrten hinüber zu den noch verschlossenen Tepluschkas der Frauen. Die Begleitsoldaten des Irkutsker Zuges schwärmten aus, kaum daß er gehalten hatte, sperrten die Umgebung ab und ließen sogar ihre Kameraden aus Chelinograd nicht näher als zehn Meter an die Waggons heran.
»Sie haben einen scharfen Hund als Kommandeur!« rief einer der Häftlinge zu ihnen hinüber. »Wollt sie wohl alle allein haben, die weißen Schenkelchen, was?«
»Weiber –« Ein Mann lehnte an der Tür und preßte die Beine zusammen. »Seit einem Jahr habe ich kein Weib mehr gesehen. Weiber … wie sehen die überhaupt aus?«
»Tür auf! Tür auf!« tönte der Chor hell hinter
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