Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
liegt.«
    »Nur ein Sadist denkt an so etwas«, sagte Marko. »Du hast einen Zug frei, Dimitri Ferapontowitsch. Los, soll das Spiel nie zu Ende kommen?«
    »Du hast nie ein Kind gehabt.« Sadowjew vergrub den Kopf in beide Hände und starrte auf die Schachfiguren. »Eine Tochter, Marko, sitzt in einem Vaterherzen wie eine blühende Rose. Wer sie herausreißt, ist des Todes wert …«
    Um vier Uhr seufzte er wieder, lehnte den Kopf an die Holzwand und benahm sich so, als sei es zu heiß und er bekäme keine Luft mehr. Wind war aufgekommen … er blies um die Güterwagen, trieb den lockeren Schnee in Wolken über die Gleise und klebte sie wie eine zweite Haut an die Waggons. Die Pendelposten der Soldaten verkrochen sich in die kleinen Bremserhäuschen. Wer jetzt flüchtete, war ein Idiot. Für ihn hörte die Welt nach einigen hundert Metern auf.
    »Wie soll das weitergehen, Marko?« fragte Sadowjew. »Hast du eine Ahnung?«
    »Nein. Wir werden in Workuta weitersehen.«
    »Und wenn er meiner Dunja jetzt, in diesem Augenblick, ein Kind macht? Man sollte sie auseinanderreißen! Marko, sie werden ihr das Kind wegnehmen. Mein Enkel wird in einem Staatsheim aufwachsen. Es wird alles nur noch schlimmer werden. Ein Fehler war's, sie wieder zusammenzubringen. Wir hätten dem Schicksal nicht dazwischenpfuschen sollen. Die Zeit wäre wie eine Salbe gewesen, die alles zudeckt, die Wunden schließt und heilt. Aber so … wir haben einen Staudamm eingerissen und nun ersaufen wir alle in der Strömung.«
    Keiner weiß, was Dunja und Igor in dieser Nacht miteinander sprachen. Jeder von uns kann es sich denken, kann es mitempfinden, wenn er ein nur halbwegs liebendes Herz besitzt und weiß, was wirkliche Liebe ist. Es sind immer wieder die uralten Worte, die gleichen Seufzer, die stammelnden Beteuerungen, und alles mündet in dem himmlischen Du, einem Wort, das unmittelbar aus Gottes Sprachschatz stammt.
    Am Morgen also ging Pjetkin zurück zu seinem Waggon. Sadowjew begleitete seine Tochter zum Lazarett des Frauenkonvois und sonnte sich in Dunjas glücklichen Augen.
    »Wir werden uns bei jedem Aufenthalt sehen, Väterchen«, sagte sie und breitete die Arme aus, als wolle sie den Himmel umarmen. »Und wenn Workuta die Hölle ist … wir finden eine Ecke für unser eigenes Paradies.«
    Sadowjew nickte. Die Kehle war ihm wie eingefroren. Der Wind zerrte an Dunjas Haaren und trieb sie wie goldende Schleier über ihr Gesicht.
    Wie schön sie ist, dachte Sadowjew atemlos. Mein Kind, mein Engelchen … wie unbegreiflich schön.
    Pjetkin brachte fünf prall gefüllte Säckchen in seinen Waggon.
    Kolka schob sie sofort hinter sich wie eine Glucke die Eier und stellte sich mit erhobenen Fäusten in Positur. Von allen Seiten drängten die Häftlinge heran – der stumme Schrei des Hungers lag in ihren Blicken wie Mordgier.
    »Wir verteilen alles gerecht«, sagte Kolka drohend. »Die eine Hälfte ist für Pjetkin und für mich, die andere Hälfte gehört euch.«
    »Du Scheißkerl!« brüllte jemand aus dem Hintergrund. »Schlagt ihm den Schädel ein!«
    Kolka grinste. Er fegte sein Brett sauber und schüttete die Schätze, die Pjetkin mitgebracht hatte in kleine Häufchen nebeneinander. Drei kräftige Kriminelle hielten Wache … man hatte schon viel erlebt, denn der Anblick von Eßbarem verwirrt dem Hungernden oft das Gehirn.
    »Zuerst der Zucker«, sagte Kolka laut. »Für jeden einen halben Löffel … Einzeln vortreten.«
    Im Wagen begann ein langer Rundlauf. Eine Schlange ausgezehrter Leiber, die umeinander kreiste, die Hände offenhielt, die Köstlichkeiten in Hemdfetzen, Papierstückchen und sogar Schuhen in Empfang nahm.
    Zucker, Mehl, Gries, Tee, Salz, Brot und sogar gefrorenes Fleisch. Kolka zerhackte es in kleine Stücke, indem er einen Fuß vom Ofen abbrach und ihn als Messer benutzte. Dann zog selige Stille über die sechzig lebenden Toten. Sie lagen auf ihren Pritschen und kauten. Sie zelebrierten das Essen wie eine heilige Handlung … ein kleines Stückchen Brot, getaucht in Zucker, wird in den Mund geschoben, und dort bleibt es liegen, auf der Zunge, die vor Ergriffenheit zittert … der Speichel läßt das Brot aufquellen, es wird größer, füllt fast den Mundraum aus, und der Zucker zerläuft, fließt in alle Ecken des Gaumens und von dort wie ein süßer Strom durch den ganzen Körper. Dann endlich schluckt man, und das ist mit nichts mehr zu vergleichen …
    Ab zehn Uhr morgens begann die Umgruppierung der Verurteilten. Mit

Weitere Kostenlose Bücher