Heiß wie der Steppenwind
Märchenland zu sein. Auch das ist Sibirien. Auch das ist Rußland. Diese moderne Stadt mit den breiten Avenuen und Grünanlagen, die großen weißen Schiffe auf der Angara, die hinunter zum Baikalsee fahren, diesem kleinen Meer inmitten der Urwälder, die kühnen Bauten der Idanow-Universität, die säulen- und giebelreichen Theater. Das Weiße Haus mit seinen korinthischen Säulen, in dem die Universitäts-Bibliothek untergebracht ist, die mächtige Eisenbetonbrücke über die Angara, die Bilderbuchkirchen Spasskaja und Kretowskaja, das Wunder des Stauwerks von Bratsk, der Palast des Bahnhofs in der Vorstadt Glaskowskoje und das größte Sportstation des ganzen Fernen Ostens … Ein Stück Weltstadt inmitten einer Unendlichkeit, die noch immer nicht erobert worden ist, durch die Jahr um Jahr die Geologen und Ingenieure ziehen, neue Gebiete entdecken, kaum faßbare Bodenschätze, Flüsse, die noch auf keiner Karte stehen, Gebirge und Schluchten, in denen noch die Urzeit nistet. Und dann kommst du aus den Anfängen der Welt hinaus an diesen Fluß, in diese Stadt voll Licht und Freude, und du glaubst, Irkutsk sei ein Stern, der einmal in diesen Urwald hineingefallen ist und nun sein eigenes Leben führt.
Über hundert Industriebetriebe ziehen sich um die Stadt, in den Gerbereien werden Bisam, Zobel, Hermelin, Marder, Weißfüchse und Nerze verarbeitet, in 72 Schulen, 19 technischen Lehranstalten und 8 Hochschulen wird der Geist einer neuen sibirischen Generation gefördert, 10.000 Studenten leben ständig in der Stadt.
Die Universitätsklinik ist – wie alles in Irkutsk – der modernste Krankenhauskomplex im ganzen Osten. Hier fehlt es an nichts … und ob man in Paris, London oder Berlin, New York, Tokio oder Rom im Krankenhaus liegt, man findet keinen Unterschied zu diesem sibirischen Klinikum, es sei denn, man ist ehrlich genug, zu gestehen: Irkutsk ist noch moderner, noch besser, noch umfangreicher als jede andere Krankenanstalt irgendwo auf der Welt.
Dunja Dimitrowna hatte im Krankenhaus ein schönes, helles Zimmer zum Innengarten hinaus bekommen. Chefarzt Prof. Dr. Bulak begrüßte sie eine Stunde nach ihrer Ankunft persönlich in seinem Büro, hielt ihr einen Vortrag über Kameradengeist und die Ehre, in Irkutsk Ärztin zu sein, stellte sie dann dem Ärztekollegium vor und übergab Dunja eine Station auf der Männerabteilung der chirurgischen Klinik. Unfallstation III. Eine Durchgangsabteilung. Hier wurden die Verletzten eingeliefert, erhielten ihre erste Versorgung, wurden weitergereicht zu den behandelnden chirurgischen Stationen. Ein ewiges Kommen und Gehen zerfetzter Leiber, ein Sammelbecken stöhnender, schreiender, sterbender Menschen.
Oberarzt dieser Abteilung III war ein Dr. Juri Dimitriwitsch Tschepka, ein hochmütiger, langer, dürrer Mensch mit dem Gesicht eines Hammels. Er begrüßte Dunja mit einem fetten Grinsen, betastete mit Blicken ihre Brüste und Hüften, schnalzte mit der Zunge und sagte: »Wir werden uns gut verstehen, Dunja Dimitrowna. Sie sind ganz allein in Irkutsk?«
»Ich komme vom Amur, Genosse.« Dunja sagte es wie eine Abweisung. »Wir sind Einsamkeit gewöhnt.«
»Wer wird in Irkutsk einsam sein?« Tschepka lachte und wollte Dunja um die Hüfte fassen. Aber sie war schneller, wich ihm aus und schlug ihm auf die Finger. »Aha! Ein eisernes Frauchen!« rief Tschepka und bog sich vor Lachen. »Liebe Kollegin, erzählen Sie mir nichts von den Mädchen im Süden! Wie Wildpferde sind sie … treten aus, wenn man sie fängt, zerren am Lasso und buckeln, wenn sie den Sattel spüren … aber zugeritten sind sie die besten Renner von ganz Sibirien. Darf ich Ihnen verraten, daß ich ein guter Reiter bin?« Wie gesagt, er war ein mieser Mensch, dieser Juri Dimitriwitsch Tschepka. Man hätte ihm dauernd in die Fresse schlagen können, und das wäre ein Genuß gewesen. Er nutzte seine Stellung als Oberarzt schamlos aus, schlich den jungen Ärztinnen und Schwestern nach, sobald es dunkel wurde, und berichtete bei Chefarzt Prof. Dr. Bulak Schlechtes über alle, die nicht nach seinem Willen waren.
Dunja schrieb gleich nach ihrer Ankunft einen Brief an Igor, aber sie gab ihn zur Weiterleitung an die Post bei der Verwaltung ab, und das war ein Fehler. Der Brief wurde zur Seite gelegt, ein Mann in einem kleinen, abgesonderten Büro entschied, daß er vernichtet werden sollte, und so verschwand der Brief in einer Papierzerkleinerungsmaschine.
Was soll man sagen, wie Dunja lebte? Sie war
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