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Heiß

Heiß

Titel: Heiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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hierher zurückgebracht?«
    Sie legte das Stück Stoff mit der Zeichnung vorsichtig zurück auf den flachen Stein. Dann musterte sie den Chief Inspector aufmerksam in der Dunkelheit. »Noch dazu in alten, zerrissenen Bauernkleidern und zu dieser Stunde.«
    Salam überlegte sich seine Antwort sorgfältig. »Ich habe einen sicheren Platz für die Nacht gesucht«, sagte er schließlich.
    Die Alte dachte kurz nach, dann nickte sie, als wäre damit alles erklärt. »Dies ist ein guter Ort«, meinte sie schließlich. »Hier wacht Shah Juan über uns. Er sprach mit den Bäumen, sie gaben ihm sogar ihren Körper für sein Werk. Er konnte die Vögel verstehen, sie waren seine Augen in der Nacht, wenn sonst niemand mehr sah. Er bannte die Geister und hielt sogar die Schneeleoparden in Schach. Er war unser Auge und unser Mund da draußen in der Welt jenseits der Berge.«
    »War er der Beschützer?«, erkundigte sich Salam.
    »Nein, nein«, wehrte die Alte ab. »Es gibt nur einen Beschützer der Kalash. Er lebte vor langer Zeit unter uns, bevor er mit der untergehenden Sonne verschwand. Nur der Schöpfer steht über ihm, Khodai, der alles kann, alles ist und alles erfüllt.« Sie wies auf das Stück Stoff und die Umrisse der Figur. »Von Khodai gibt es kein Abbild und für ihn kein Heiligtum, denn er ist unerreichbar und nicht erfassbar in seiner Größe. Aber er ist es, der die Natur in seiner Hand hält, der jedes Jahr den Schnee zum Schmelzen bringt und die Knospen zum Sprießen.«
    Sie wies hinunter ins Tal, wo der Ort an einem schmalen Bach lag. Kein Laut drang herauf. »Wir sind umringt von Feen und Geistern, Göttern und Dämonen, die jeden Tag unser Leben bestimmen. Sie haben seit Tausenden von Jahren ein Abkommen mit uns, gegen das man nicht verstoßen darf.«
    Plötzlich begann sie zu singen, mit einer brüchigen Stimme, die Salam eine Gänsehaut über den Rücken jagte:
    »Es ist Winter,
    geh nicht in die Berge,
    steig nicht hinauf,
    wo die Feen Dich holen werden«
    Der Chief Inspector hatte den Eindruck, dass mit einem Mal das Rascheln in den Eichen lauter wurde. Die Alte verstummte, lauschte und hob den knochigen Zeigefinger. »Hören Sie?«
    »Der Wind wird stärker.«
    »Die Feen kommen näher«, antwortete sie einfach. »Manchmal steigen sie herab von den Bergen, aus der Reinheit der Höhen in den Schmutz der Niederungen. Dann sind sie gekommen, um uns zu helfen. Aber oben, auf den Bergen, da sind sie die uneingeschränkten Herrscher und verteidigen ihr Reich.«
    Salam seufzte. »Vielleicht haben sie einen Zauberstab dabei, der mich unsichtbar macht.«
    Die Alte musterte ihn mit einem seltsamen Blick. »Trage Schwarz in der Nacht und Weiß im Schnee«, sagte sie nur. »Und die Peri werden dich schützen.«
    »Wer sind die Peri?«, fragte Salam.
    »Feen aus den Bergen, die uns bei der Jagd helfen. Und dabei helfen, unsere Feinde zu töten.«
    »Dann sollten sie am besten zu Hunderten anrücken«, gab der Chief Inspector zurück und lächelte bitter.
    »Nicht die Zahl ist wichtig, die Stärke ist es«, meinte die Alte listig. »Hundert Ameisen werden doch von nur einem Schuh zertreten.«
    Beide schwiegen und blickten ins Tal. Die Minuten vergingen, und Salam spürte die Ruhe, die ihn umgab und die sich langsam in seinen Gedanken ausbreitete.
    »Wollen Sie über die Berge? Vor welchen Geistern laufen Sie davon?«, fragte die Alte ihn unvermittelt.
    Salam starrte in die Nacht. »Die Schneeleoparden sind aufgewacht«, flüsterte er, »und ihre Krallen reichen bis über die Grenzen.«
    »Juan hatte keine Angst vor ihnen, und ich habe es auch nicht«, sagte sie. »Kommen Sie! Wir gehen.« Sie stand auf und streckte ihre Hand aus.
    Erstaunt sah Salam auf. »Wohin?«
    »Ins Dorf. Sie müssen essen, trinken und schlafen. Wir werden einen sicheren Platz für Sie finden, und die Männer werden bis morgen früh wachen. Lassen Sie den Wagen hier, unter den Zweigen der Bäume.«
    »Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen«, wehrte der Chief Inspector ab.
    »Die Gastfreundschaft ist in den Bergen heilig«, gab die Alte zu bedenken.
    »Manchen Menschen ist nichts heilig«, antwortete Salam und erhob sich. »Sie wollen Terror, Blut und Chaos und nennen es den heiligen Krieg.«
    »Es gibt keinen heiligen Krieg, und wenn sie das glauben, dann werden sie in der Schlacht umkommen«, flüsterte die alte Frau. Sie sah dem Chief Inspector in die Augen. »Denn in unserem Glauben ist jede Störung der Ordnung – also Krieg – ein

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