Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
menschlicher Köder.
Der Wind, stoßweise und heiß wie der Atem eines Geliebten, frischte auf und trieb die Nebelschwaden zu ihren Füßen auseinander. Jennys Herz schlug schneller. Die Gräser und Sträucher bewegten sich – oder wurden von irgendwas bewegt. Sie strengte ihre Augen an, um zu sehen, was es war. Und dann, in einer einzigen, blitzschnellen Bewegung, brach das Tier aus dem Wald hervor und stürmte auf sie zu. Sie riss die Waffe hoch und schoss beinahe auf das Wildschwein, bevor sie erkannte, was es war, und sich zusammenriss. Das Tier galoppierte grunzend und schnüffelnd an ihr vorbei und überquerte die Straße, um in dem Sumpf auf der anderen Seite zu verschwinden.
Die Betäubungspistole noch in der Hand, die Arme ausgestreckt, wie um die Waffe abzufeuern, stand Jenny da und spürte ein nervöses Lachen in sich aufsteigen. Langsam ließ sie den Kopf und die Arme sinken. Gott bewahre, aber fast hätte sie ein Schwein zur Strecke gebracht!
Das Lachen verging ihr jedoch, als sie ein leises, tiefes Knurren hinter sich vernahm. Es war ganz nahe. Verdammt, warum hatte sie nicht aufgepasst? Sie hob die Waffe wieder und fuhr herum.
Zu spät. Das Ding stürzte sich auf sie wie ein wild gewordener Quarterback und fuhr mit rasiermesserscharfen Krallen über ihre Brust, als Jenny mit dem Rücken auf dem heißen Asphalt aufprallte. Die Waffe rutschte ihr aus der Hand und schlitterte über die Straße. Jenny lag dort und starrte fast ebenso erstaunt und ehrfurchtsvoll wie ängstlich zu der Kreatur über ihr auf.
Schwer atmend kauerte sie halb über ihr, und mit jedem Atemzug entrang sich ihr ein leises Knurren. Das Gesicht war deformiert, der Kiefer verlängert und die Nase auffallend verkürzt. Das Gesicht war jedoch nicht so stark behaart, wie Jenny erwartet hatte; die Augenbrauen waren breit und dicht, die Augen tief liegend und dunkel. Der Haaransatz schien weiter ins Gesicht zu reichen als bei einem Menschen, und das Kinn war haarig. Es war dunkles, ziemlich grobes Haar, kein Fell, das hätte weicher ausgesehen.
Das Wesen hatte schöne Augen, merkte Jenny, als sie dort lag und den Tod erwartete.
Aber war es menschlich, dieses … Ding?
Sie zwang sich, den Blick von seinen dunkelbraunen Augen abzuwenden und den Rest von ihm in Augenschein zu nehmen. Bis auf das dichte Haar auf seinen Handrücken waren seine Hände nicht viel anders als die eines Menschen. Ihre Innenflächen waren glatt und unbehaart – doch statt Fingernägeln hatte es Krallen. Gefährlich scharfe Krallen, dachte Jenny, als ihr der Schmerz in ihrer Brust vorübergehend wieder zu Bewusstsein kam. Sein Oberkörper war muskulös, behaart und hier und da mit zerfetztem weißen Stoff bedeckt. Der Rest seines Körpers war … mit Jeans bekleidet!
Sie blinzelte und sah noch einmal hin, doch die Jeans waren keine Halluzination. Sie waren zerrissen und schmutzig, aber da. So viel zu ihrer Theorie, dass eine bis dahin unbekannte Spezies gesichtet worden war. Die Jeans verrieten etwas anderes. Tiere kleideten sich für gewöhnlich nicht wie Menschen.
Aber wie menschlich war das Wesen?
»Kannst du mich verstehen?«, fragte sie und schaffte es, die Worte in einem klaren, wenn auch nicht ganz ruhigen Ton hervorzubringen.
Das Wesen beugte sich noch weiter vor und ließ seine dunklen Augen über ihren Körper gleiten. Es schien sie ebenso gründlich zu inspizieren, wie es umgekehrt der Fall gewesen war. Aber sein Blick blieb an ihrem Oberkörper hängen, und als sie an sich hinunterblickte, sah sie drei blutige Risse in ihrer Bluse und der Haut darunter.
Jenny hob den Kopf und begegnete dem Blick der dunklen Augen. Das Wesen beugte sich noch tiefer über sie. Vielleicht nahm es den Geruch ihres Blutes wahr. Oder ihren ganz eigenen. Da verwandelte es sich vor ihren Augen, der Körper veränderte sich im Dunkeln, und die Schnauze verlängerte sich.
»Ich will dir nichts Böses«, sagte sie.
Es knurrte laut und sprang sie an, und hätte sie nicht blitzschnell reagiert, wäre es direkt auf sie gefallen. Aber Jenny riss die Beine hoch und stieß sie ihm mit aller Kraft gegen die Brust. Das Wesen verlor den Schwung und fuhr so jäh zurück, dass seine Füße – Pfoten? – für den Bruchteil einer Sekunde den Halt auf dem Asphalt verloren, bevor sein ganzer Körper hart dort aufschlug. Und nun sah es wirklich gar nicht mehr so aus wie vorher. Plötzlich hatte Jenny einen Wolf vor sich und fragte sich dunkel, ob er das nicht schon die ganze Zeit
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