Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
losgehen?«
»Noch nicht. Ich muss mich vorher noch kurz in Professor Hinkles Zimmer umsehen. Aber wir werden uns beeilen müssen.«
»Ich kann diesen Mann sowieso nicht leiden.« Mamma Louisa griff in eine Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor. »Kommen Sie, und lassen Sie uns sehen, was für Geheimnisse der Professor hat!«
10. Kapitel
J enny war, als sträubten sich ihr die Nackenhaare, als sie durch Professor Hinkles Zimmer schlich. Mamma Louisa stand draußen vor der Tür auf dem Flur und hielt dort Wache. Nicht, dass es sehr viel helfen würde, falls der gute Mann zurückkehrte, denn es gab außer dieser einen Tür keinen anderen Ausweg aus den Zimmern. Aber zumindest würde Jenny gewarnt sein, falls Hinkle kam.
Als Erstes trat sie an den in einer Fensternische stehenden Schreibtisch und blätterte in den darauf herumliegenden Papieren, ohne jedoch etwas zu finden. Dann klappte sie den Laptop des Professors auf und schaute sich die zuletzt geöffneten Dateien an, in denen sie aber auch nichts anderes fand als nüchterne Berichte über das Projekt.
Schließlich versuchte sie, die Schreibtischschublade zu öffnen, und musste zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass sie verschlossen war.
Zur Tür gewandt, rief sie in gedämpftem Ton nach Mamma Louisa, die auch gleich den Kopf ins Zimmer steckte und sie mit hochgezogenen Brauen ansah.
»Der Schlüssel zu diesem Schreibtisch – haben Sie ihn?«
»Nein, Missy. Der Doktor hat dafür gesorgt, dass er den einzigen dafür hat.«
Dann war alles klar. Falls Hinkle etwas besaß, das er vor allen anderen verbergen wollte, musste es sich in dieser Schreibtischschublade befinden. Mamma Louisa kam ins Zimmer hinein, die Augen auf die Schublade gerichtet, und streckte eine Hand aus, während ihre Lippen lautlos Worte formten. Dann beugte sie sich vor, blies auf den Griff der Schublade und zog sie auf.
»Wie zum Teufel …«
»Sie haben sich geirrt, ma chère . Die Schublade war gar nicht verschlossen«, sagte sie und eilte zu ihrem Posten auf dem Flur zurück.
Jenny verdrängte die zunehmende Verwirrung, die Besitz von ihr ergriff. Sie hatte so viel Seltsames gesehen, seit sie hergekommen war – Dinge, von denen ihre Vernunft und Erziehung ihr sagten, dass es sie nicht gab, nicht geben konnte . Sie konnte aber auch ihre eigenen Sinneswahrnehmungen nicht verleugnen. Jenny hatte gesehen , wie Samuels Gesicht und Körper sich in etwas anderes verwandelt hatten. Und sie war absolut sicher, dass diese Schublade gerade noch abgeschlossen gewesen war.
Aber jetzt war sie offen, und Jenny entdeckte ein ledergebundenes Buch darin – und gleich daneben den Gipsabdruck, den sie von der Pfotenspur im Wald angefertigt hatte. Also war dieser verdammte Hinkle es gewesen, der ihn gestohlen hatte! Vorsichtig nahm sie das Buch heraus, schlug es auf und sah Seite um Seite voller handschriftlicher Notizen. Jede Seite war mit einem Datum versehen. Es schien sich also um ein Tagebuch zu handeln.
Stirnrunzelnd blätterte sie darin und las hier und dort ein paar Zeilen, wobei ihr plötzlich ihr eigener Name ins Auge sprang.
Jennifer Rose ist die Beste, die ich je gesehen habe, die Beste, mit ich jemals zusammengearbeitet habe. Aber ich darf sie nicht glauben lassen, ich unterstützte ihre Theorien. Tatsächlich muss ich sie sogar widerlegen und Miss Rose unglaubwürdig machen, während ich sie benutze, damit sie mich zu dem führt, was ich brauche.
Jenny blinzelte. Großer Gott – er schwärmte buchstäblich von ihren Fähigkeiten auf ihrem Fachgebiet, während er ihre Arbeit ihr selbst gegenüber stets kritisiert, sie herabgesetzt und verurteilt hatte. Sie sei lächerlich, keine wahre Wissenschaft, ja sogar betrügerisch, hatte er gesagt.
Sie blätterte weiter.
Ich wusste, dass sie es finden würde! Hier habe ich endlich das vollständige Ritual.
Unter diesen Worten sah sie einen Entwurf, der wie ein Rezept aussah und den Titel Wie werde ich zu einem Werwolf? trug.
Was zum Teufel …?
Jenny las weiter und erkannte in einigen Abschnitten Teile ihrer eigenen Untersuchungen, andere, die Carrie verschiedenen Quellen entnommen hatte, und wieder andere, die ihr völlig neu waren. Sie überflog die Zeilen. Die dritte Nacht des vollen Mondes – das war die heutige. Es gab auch eine Liste von Kräutern, die alle mit einem Häkchen versehen waren. Jenny wusste, dass eine der Voraussetzungen für das Ritual ein Feuer war, aber diese Liste gab sogar genaue Anweisungen zu der Art von
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