Heißes Blut: Anthologie (German Edition)
einer Kordel befestigten Kristall heraus. Sie ließ ihn baumeln, bis er innehielt, und beobachtete dann sehr aufmerksam, wie er langsam wieder hin- und herzuschwingen begann. Die Bewegung, die zu Anfang fast unmerklich war, nahm stetig zu, und schließlich schnippte Mamma Louisa mit den Fingern gegen die Kordel, nahm den Kristall in die Hand und sagte: »Hier entlang.«
Jenny hatte das Gefühl, als dauerte es ewig, bis sie den Rauch wahrnahmen. Dann sah sie allmählich auch das schwache Glühen und flackernde Feuer in einiger Entfernung, und ihre Schritte wurden schneller, obwohl sie sich immer noch bemühte, so leise wie nur möglich aufzutreten. Mit Mamma Louisa schlich sie zum Rand einer kleinen Lichtung und spähte durch die Bäume.
Jenny entdeckte Samuel sofort. An Händen und Füßen gefesselt, lag er auf dem Boden, offenbar halb ohnmächtig, denn seine Augen öffneten und schlossen sich, und von seinem Kopf lief Blut über sein Gesicht, das rötlich glitzerte im Schein des Feuers.
Über dem Feuer stand ein Dreibein, an dem ein großer Kessel hing. Dampf stieg von seinem kochenden Inhalt auf, und der Geruch von Kräutern lag schwer in der Luft. Nicht weit davon entfernt saß Professor Hinkle auf dem Boden, völlig entkleidet, und rieb sich mit irgendetwas Klebrigem Brust und Arme ein. Jenny fragte sich, ob es Katzenfett sein mochte, und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Himmel, wie viele unschuldige Tiere würden noch leiden müssen, um Hinkles Wahnsinn zu befriedigen?
»Was sollen wir tun?«
»Er hat einen Kreis gezogen.« Mamma Louisa deutete auf einen Ring aus etwas, das nach auf dem Boden verstreutem Salz aussah. »Aber ich kann ihn brechen. Kommen Sie.«
Sie nahm einen Federfächer aus ihrer Tasche, den sie dann wie einen Besen in der Luft vor ihnen schwenkte, als sie weiterkrochen. Hinkle saß mit geschlossenen Augen da und skandierte seine Zauberworte.
Als sie den Ring aus Salz erreichten, sagte Mamma Louisa: »Öffne dich!«, schwenkte den Fächer zuerst in der Luft und dann über dem Boden, fegte das Salz beiseite und betrat den Kreis. Jenny folgte ihr, verharrte aber jäh, als sie über ihnen den silbrig schimmernden Mond aufgehen sah. Entsetzt fuhr sie herum und beobachtete, wie Samuel, der immer noch gefesselt war, sich krampfartig gegen die Seile warf. Ein dumpfes Knurren drang aus seiner Kehle.
Bei Mamma Louisas scharfem Befehl riss Hinkle die Augen auf und sprang auf. »Verschwinden Sie!«
Mamma Louisa schüttelte den Kopf.
Hinter ihr verwandelte Samuel sich schon. Er verdrehte die Augen und krümmte den Rücken, während sich seine Gesichtsmuskeln verzerrten und das Seil an seinen Handgelenken auseinanderriss.
»In Namen Oyas und Yemayas verweise ich jede negative Kraft aus diesem Kreis und rufe das Gute herbei. Ich rufe das weiße Licht. Ich rufe Schutz herbei!«
»Nein! Verschwinden Sie, sag ich!« Hinkle bückte sich und griff nach irgendetwas, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine Waffe hoch.
»Pass auf!«, schrie Jenny.
Doch da sprang der Wolf Hinkle schon an und traf ihn an der Brust. Die Waffe flog dem Professor aus den Händen, und der Schuss, der sich daraus löste, ging daneben.
Hinkle lag jetzt auf dem Rücken, mit einem zähnefletschenden, ungeheuer starken Wolf auf seiner Brust, der böse knurrte. Die beiden Frauen standen reglos da und starrten Mensch und Tier nur an. Jenny wurde klar, dass sie den Wolf nicht daran hindern konnten, seinem Peiniger die Kehle durchzubeißen. Körperlich zumindest waren sie ihm nicht gewachsen.
Jenny schluckte und wusste, dass sie versuchen musste, den Mann, den sie liebte, auf andere Weise zu erreichen, bevor er zum Mörder wurde.
»Samuel, ich weiß, dass du in dem Wolf bist und mich hören kannst«, sagte sie leise. »Mojo lebt. Er ist beim Tierarzt und wird bereits behandelt. Und dieser Mann wird nie wieder jemandem etwas zuleide tun, wenn ich bezeuge, was hier heute Abend vorgefallen ist.«
Der Wolf blickte zu ihr herüber. Seine Augen … waren Samuels Augen. Mamma Louisa griff in ihre Tasche, aber Jenny hob die Hand, um sie zurückzuhalten. »Nein. Nein, du brauchst keine Magie anzuwenden. Er wird einem Menschen nichts antun, das weiß ich. Warte einfach ab.«
Der Wolf knurrte tief und leise.
»Tu ihm nicht weh, Samuel! Du bist ein Heiler, kein Mörder.«
Das Tier blickte auf den Mann unter sich herab und wandte sich dann wieder Jenny zu.
»Ich liebe dich, Samuel«, flüsterte sie.
Eine Weile starrte
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