Heißes Geld
dabei Hand in Hand durch den Ort geschlendert. Jedermann nahm an, sie wären ein Liebespaar, das viel Zeit hätte, und Henry fand zunehmend Gefallen an der verwirrenden Camouflage. Das verschlafene Nest, umsäumt von sattgrünen Hängen und schroffen Felsmassiven, sah aus wie die Kulisse zu einem Ganghofer-Film, und Henry und Babs waren sicher, ihr Wilderer-Drama hier noch zu erleben.
Nach dem Mittagessen trennten sie sich. Henry hatte Lydias Zeichnungen ausgepackt und von eins bis fünf nummeriert. Er behielt die Originale, Barbara nahm die Kopien. Bereits beim zweiten Versuch wurden sie, fast gleichzeitig, fündig. Die Zeichnung Nummer drei – sie zeigte den Gesuchten gealtert, mit hagerem zerklüfteten Gesicht, hungrigem Ausdruck, glattrasiert und mit vollem Haarwuchs – wurde von den Dingsbachern übereinstimmend als der angebliche Bruder der Frau Linsenbusch wieder erkannt, die das kleine Häuschen ganzjährig gemietet hatte, obwohl sie es nur im August zu nutzen pflegte. Die Wirtin der ›Post‹, der Tankwart im Nachbarort und der Pächter der ›Schlüsselalm‹ hatten den Gesuchten mit Sicherheit, und einige andere mit Einschränkungen, identifiziert und bereitwillig darüber gesprochen, daß die Zuag'roaste und ihr Bruder jeweils in der letzten Juliwoche ankämen, zurückgezogen lebten, mit dem Auto – Münchner Zulassung – kleine Ausflüge, lange Bergwanderungen unternähmen, und in den letzten Augusttagen wieder abreisten.
»Die Autonummer ist wohl kein Hinweis«, stellte Barbara fest. »Ich nehme an, daß der Bursche sich in München einen Leihwagen mietet – aber wir brauchen uns nur noch ein paar Stunden zu gedulden, und er plumpst uns vor die Füße wie Fallobst.«
»Wurmstichiges«, entgegnete Henry lachend.
»Und was unternehmen wir dann?«
»Das ergibt sich aus der Situation«, erwiderte der Amerikaner.
»Du sprichst weise wie Salomon«, versetzte Barbara. »Es war relativ einfach, einen Verschollenen zu finden, der seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesucht wurde, aber was kommt dann, Onkel Candy?«
»Zuerst einmal stellen wir fest, wie der Mann sich heute nennt, wo und wie er lebt. Dann zählen wir seine Delikte zusammen und überlegen, ob wir die deutsche, die amerikanische oder die französische Strafverfolgung in Anspruch nehmen.«
»Dann wird sich der Fall in die Länge ziehen, bis er schließlich versandet«, erwiderte die Assessorin.
»Das ist ja das Problem«, sagte Henry: »Die alte Frage, ob man wagt, die Gerechtigkeit über die Justiz zu stellen oder nicht …«
»Eine ziemlich gefährliche Ansicht für einen Juristen«, entgegnete sie. »Was willst du eigentlich?«
»Zunächst einmal das Blutgeld«, antwortete der Amerikaner. »Und dann die Strafe, die Linsenbusch verdient hat, und …«
»Selbsthilfe?« unterbrach ihn Barbara.
»Wenn es die einzige Möglichkeit wäre, zu einem Ende zu kommen …«
»Als eine Art Robin Hood?«
»Nicht schlecht«, entgegnete Henry. »Sigi nannte mich einen Michael Kohlhaas auf amerikanisch.«
»Also, abwarten und Tee trinken.«
»Wait and see«, wiederholte er.
Sie gingen zur ›Post‹ zurück. »Mei, ham Sie a Massl«, rief die Wirtin schon von weitem. »G'rad hat der Herr Professor aus Münch'n ang'ruffa, sei Frau hat sich an Knöch'l broch'n. Jetzt kenna's denne eahna Zimmer ham, des schönste im ganzen Haus.«
Statt erfreut zu sein, rieb sich Henry die Stirn, als wäre ihm Vogelmist auf den Kopf gefallen. Babs gab ihm einen kleinen Schubs: »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie, und auch ihr Begleiter nickte ohne Nachdruck. Jeder mußte ihm ansehen, daß er nicht verheiratet war, aber das interessierte die Wirtin wenig, ohnedies pflegt der Fremdenverkehr seinen Namen oft recht wörtlich zu nehmen. Babs genoß die erschrockene Nachgiebigkeit eines früheren Windhundes, der als 39jähriger aus der Not keine Untugend machen wollte.
Die Wirtin schloß ihnen auf: »Werd's euch scho' vertrag'n, ihr zwoa«, sagte sieund ging wieder nach unten.
Das erste, was Henry sah, war ein breites, bemaltes Himmelbett, darüber ein handgeschnitzter Herrgott in Birnenholz: »Zum Verlieben«, sagte er griesgrämig: »Du hast ja Mut«, setzte er hinzu.
»Angst?« fragte Barbara.
»Wovor?«
»Wenn schon einer verführen würde«, versetzte Henry unter großer Betonung des Konjunktivs, »dann wäre das ich.«
»Na also«, versetzte sie, »dann habe ich ja auch nichts zu befürchten. Sieh dich mal im Spiegel an«, lachte sie:
Weitere Kostenlose Bücher