Heißes Versprechen
entsetzt. »Glauben Sie, Herr Pitney hätte auf jemanden geschossen, der es gewagt hatte, sein Labyrinth zu betreten? Das ist nur schwerlich vorstellbar. Er ist als absonderlich bekannt, doch die wenigen Male, die ich ihn persönlich getroffen habe, erschien er mir immer als ein freundlicher, harmloser alter Mann.«
»Freundlich mag er schon sein, doch harmlos ganz gewiss nicht, noch nicht einmal in seinem fortgeschrittenen Alter.«
»Sie müssen diesen Punkt nicht unbedingt weiter ausführen.«
»Wir wissen noch nicht, ob er das Opfer oder aber der
Angreifer war«, meinte Artemas. »Sie werden hier warten, während ich etwas mehr herauszufinden versuche.«
»Aber Artemas ...«
Er diskutierte die Sache nicht weiter, sondern fixierte sie mit einem solch einschüchternden Blick, dass es ihr die Sprache verschlug. Zum ersten Mal offenbarte er ihr diese Seite seines Charakters, und sie empfand sie als recht beängstigend. Sie blinzelte und ermahnte sich, dass sie seine Hilfe gerade wegen seiner Ausbildung erbeten hatte. Sie musste ihn seine Arbeit verrichten lassen.
Offenbar zufrieden, hob Artemas die Pistole auf Taillenhöhe und ging mit lautlosen, gleitenden Schritten voran. Er bog um eine Ecke und war nicht mehr zu sehen.
Mit zitternden Händen zündete sie die Kerze wieder an und lauschte in die Stille. Sie atmete langsam und bewusst und versuchte sich zu beruhigen, wie sie es auch während der Meditationen zu tun pflegte.
Sie hätte nicht sagen können, wann ihr zum ersten Mal ein vager, kaum wahrnehmbarer Duft auffiel. Sie schnupperte und nahm einen leichten, süßlichen Geruch war. Weihrauch. Die Kräuter hätte sie nicht benennen können, doch war sie sich fast sicher, diesen Geruch schon einmal in einem anderen Zusammenhang gerochen zu haben.
Der beißende Geruch verstärkte sich. Sie erinnerte sich an einen bereits lange zurückliegenden Morgen, an dem sie im Türrahmen zu Bernice’ Laboratorium gestanden und ihre Tante dabei beobachtet hatte, wie sie Kräuter von der Insel Vanzagara in einem Mörser verarbeitete.
»'Womit experimentierst du denn dieses Mal, Tante Bernice'?« Fragmente der Antwort ihrer Tante schwirrten ihr durch den Kopf.
»... in kleinen Mengen soll diese Mischung Halluzinationen hervorrufen, in größeren Dosen verabreicht, lässt es sogar sehr unruhige Menschen einschlaf en ...«
Einige Sekunden war sie starr vor Schrecken. Dann nahm sie all ihre Willenskraft zusammen und rannte los.
»Artemas, sind Sie da? Etwas Schreckliches ist passiert.«
»Hier entlang«, rief Artemas grimmig »Beeilen Sie sich, folgen Sie einfach der Blutspur. Sie ist deutlich zu erkennen.«
Sie eilte die gewundenen Gänge entlang, wobei sie den schaurigen braunen Flecken auf den Fliesen folgte. Sie bog um die letzte Ecke und fand sich in einer kleinen Kammer wieder, die wie eine winzige Bibliothek ausgestattet war. Es war ein verblüffender Anblick. Ein alter Schreibtisch aus Mahagoniholz, auf dem sich Papiere und ein Notizbuch stapelten, stand in dem Zimmer. Ein ansehnlicher Teppich bedeckte die kalten Steine. Zwei unangezündete Lampen standen hinter einem Stuhl. Drei mit Glastüren versehene Bücherregale waren mit abgenutzten, in Leder gebundenen Büchern voll gestopft und standen an einer Wand, die mit unzähligen Dreiecken innerhalb anderer Dreiecke gemustert war.
Das Arbeitszimmer eines Gentlemans inmitten des Labyrinths. So merkwürdig nun auch wieder nicht, dachte sie, wenn man bedachte, dass es sich bei diesem Gentleman um einen Vanza handelte und diese wiederum zur Schrulligkeit neigten. Dann entdeckte sie Artemas, der hinter dem Tisch kauerte. Sie ging um das riesige Möbelstück herum. Als sie Eaton Pitney sah, stockte ihr der Atem.
Er kauerte zusammengesunken auf dem Boden, wobei sein Rücken gegen den Schreibtisch gelehnt war. Eine kleine Pistole lag neben seinen laschen, blutverschmierten Händen. Er hatte einen etwas unbeholfenen, doch offenbar dennoch erfolgreichen Versuch unternommen, die Wunde an seiner linken Schulter mit seiner Krawatte zu verbinden.
»Herr Pitney.« Sie kniete sich neben ihn und berührte sein Handgelenk. Zwar bewegte er sich nicht, noch öffnete er die Augen, doch ging sein Atem recht regelmäßig. »Gott sei gedankt, er ist noch am Leben.«
»Immerhin beantwortet dies die eine oder andere drängende Frage«, sagte Artemas. »Offenbar war es nicht Pitney, der uns hier eingeschlossen hat.«
Madeline hob ihren Blick von Pitneys kränklich blassem Gesicht.
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