Heldensabbat
vernommen. Sie ist offensichtlich die letzte Zeugin, die den spurlos Verschwundenen gesehen hat, auf dem Weg zum Omnibus nach Mainbach. Behutsamer hatte sich der Kriminalbeamte Sibylle Bertram, die Verlobte des Vermißten, vorgenommen. Sie wirkt traurig und verstört und bringt die Ermittlungen keinen Schritt weiter. Auf äußere Eindrücke verläßt sich der erfahrene Bruckmann nicht; er ordnet an, daß sowohl Sibylles als auch Tante Gundas Telefon heimlich überwacht wird. So sehr Pfeiffer auch drängt und so nervös sich Rindsfell aufführt, das permanente Mithören aller Orts- und Ferngespräche gibt so wenig einen Anhaltspunkt für die Fahndung wie die Postüberwachung.
Hauptsturmführer Panofsky ist immer noch auf seinem Schulungskurs in Berlin – erst später wird sich herausstellen, daß es sich dabei um ein für den Kriegsfall bereitgestelltes Einsatzkommando handelte, das im Hinterland unliebsame Personen liquidieren soll –, und sein Vertreter, Obersturmführer Hassler, erweist sich längst nicht als ein so scharfer Hund wie sein Vorgesetzter; er ist mit Bruckmann der Ansicht, daß der Fall Faber in Mainbach schon genug Staub aufgewirbelt hat und man ihn tunlichst ruhen lassen soll. Die Gerüchte vom Selbstmord verdichten sich zu einer spekulativen Gewißheit, die je nach Standort des Verbreiters mit Entsetzen, Erschütterung oder Genugtuung kommentiert wird.
Das Stadtgespräch nimmt den Verlauf aller Sensationen und welkt rasch, zumal sich jetzt weit größere Ereignisse in den Vordergrund drängen: Am 23. August 1939 verbündet sich Adolf Hitler – er hatte vor knapp zwei Jahren bei einer Geheimbesprechung in der Reichskanzlei seinen bestürzten Generälen eröffnet, eine Erweiterung des deutschen Lebensraums sei nur noch durch eine konsequente Eroberungspolitik zu erreichen, weshalb unverzüglich der Krieg im Osten vorbereitet werden müsse – mit seinem Todfeind Josef Stalin. Alptraum der Welt: die braune und die rote Diktatur Arm in Arm auf Raubzug. Der deutsche Gewaltherrscher hat den Rücken frei, und so wird am 1. September 1939 aus dem Nervenkrieg an der polnischen Grenze ein Schießkrieg.
Bevor sich der Herbst blutig einfärbt, hat sich Sibylle, Großdeutschlands einsamste Braut, in ihr Examen verbissen und es als Zweitbeste bestanden. Zweimal hat sie von neutralem Ort aus mit Hans telefoniert und war dabei mit ihm übereingekommen, auf einen Briefverkehr unter Deckadresse zu verzichten. Sie wollte keine Briefe haben, die sie hinterher gleich vernichten mußte, und was sie einander zu sagen hatte, brauchten sie nicht erst niederzuschreiben. Zu einem dritten Telefongespräch, bei dem Sibylle dem Mann ihrer Liebe sagen wollte, daß sein Freund Oberleutnant Claus Benz ihn umgehend wieder ins Leben zurückrufen würde, kam es nicht mehr. Reservist Faber stand, inzwischen zum Feldwebel befördert, im Fronteinsatz in Polen.
Sibylles Bruder Rolf, Stefan Hartwig, Benno Metzger und die anderen Abiturienten der 8 c wurden vorzeitig und ziemlich überstürzt zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Während die Sondermeldungen rasche Siege im Osten hinausposaunten, wurden für die Zivilbevölkerung die Lebensmittel rationiert und die Reichskleiderkarte eingeführt. Soweit der Staat private Kraftfahrzeuge nicht einfach beschlagnahmte und sie keinem kriegswichtigen Einsatz dienten, waren sie unverzüglich stillzulegen.
Ob am Mainbacher Gymnasium Latein oder Griechisch auf dem Stundenplan steht, der »Hydro« gibt sich als Amateurstratege und verzapft dilettantische Kriegsweisheiten. Kollege Pfeiffer spricht im Unterricht nur noch über Blitzsiege und die Größe der Zeit. Stocker läßt patriotische Lieder singen, und Oberstudiendirektor Dr. Schütz will hinter so viel Einsatz nicht zurückstehen und stellt sich persönlich hinter eine Werbekommission, die mit einigem Erfolg Oberkläßler zur freiwilligen Meldung in die Waffen-SS überredet.
Andere Lehrkräfte des Gymnasiums bleiben auch in den Tagen heißlaufender Propaganda besonnen, ob sie das Parteiabzeichen tragen oder nicht. Nicht wenige stehen unter Gewissenszwang und versuchen in großer Bedrängnis ihre Schüler davor zu bewahren, der militaristischen Tollwut zu verfallen.
Im Direktorat erwartet den Rex eine persönliche Überraschung: Mainbachs Wehrbezirkskommando teilt ihm amtlich mit, daß Studienassessor Dr. Hans Faber zur Wehrmacht eingezogen worden sei und mit seinem Panzerregiment bereits im Fronteinsatz stehe. In holprigem
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