Heldensabbat
zu Zuchthausstrafen von einem bis zu vier Jahren verurteilt worden waren. Schon wird für die Zukunft die Todesstrafe angedroht. Trotzdem verbreitet sich die Meldung von BBC London wie ein Lauffeuer, daß die englische Regierung mit einer Kriegsdauer von mindestens drei Jahren rechnet und bereits ein Expeditionskorps von 158.000 Elitesoldaten nach Frankreich entsandt hat.
Eine spätherbstliche Sonne – sie hatte die deutschen Panzer im Osten begünstigt – bescherte dem Maintal vorübergehend einen angenehmen Altweibersommer, aber für den Wein kommt die schöne Witterung zu spät. Der Jahrgang 39 wird der bisher schlechteste des Jahrhunderts, doch Tante Gunda, die Winzerin aus Dettelbach, sorgt sich mehr um ihren verschwundenen Neffen Hans als um den sauren Tropfen. Restlos zufrieden mit der Zeit sind die Jungvolkführer – als Luftschutzmelder haben sie schulfrei und bekommen noch Geld dafür; sie beziehen eine Art Biwak im Alten Rathaus, gegenüber dem Rottmannshäuschen, der Wirkungsstätte des Kriminaloberkommissars Bruckmann. Seitdem mit Kriegsbeginn alle Polizei- und Exekutivaufgaben im Reichssicherheitshauptamt in Berlin vereint sind, werden die Kripo- und Schupo-Dienststellen voll von Himmlers SS geschluckt. Es bringt dem Streber die ersehnte Beförderung, auch ohne Hilfe des Mainbacher SD-Chefs Panofsky, der dem Vernehmen nach seinen Fronteinsatz im Osten hinter sich bringt; Obersturmführer Hassler teilt Bruckmann mit, daß er zum Kriminaloberinspektor und gleichzeitig zum SS-Obersturmführer ernannt wurde. »Wenn Sie weiterhin so spuren«, verspricht Panofskys Vertreter, »überspringen Sie die nächsten Stufen und rücken gleich in den höheren SS- und Polizeidienst auf. Bei uns macht man schnell Karriere.« Halb spöttisch und halb anerkennend setzt der SD-Offizier hinzu: »Dann sind Sie SS-Major, und ich muß vor Ihnen noch strammstehen.«
Bruckmann hechelt vor Aufregung wie ein Hund, dem man die Wurst vorhält. Im übrigen ist er unabkömmlich, wie andere stramme Gefolgsleute, zum Beispiel der Bannführer Greifer, der Studienprofessor Pfeiffer, der Goldfasan Wimmer, der Arzt und Spitzel Nummer 9077 Dr. Fibig oder der V-Mann 7133 alias Postinspektor Reblein, der markige Singlehrer Stocker und der wendige Rechtsanwalt Vollhals. Sie reden ständig davon, daß sie für die Aufhebung ihrer uk-Stellung kämpfen, aber das Einrücken zur Wehrmacht überlassen sie anderen. Es sieht aus, als würden sie die Heimatfront bis zum letzten Blutstropfen – der Frontsoldaten – halten.
Mehr lächerlich als ärgerlich wirken die forschen Mitglieder des NS-Kraftfahrerkorps, die jetzt zu Fuß gehen müssen, weil die Wehrmacht ihre Fahrzeuge requiriert. Das Militär überlagert jetzt alles, das Straßenbild wie die Wirtschaft, auch wenn ihr die schwarze Stiefelwichse ausgegangen ist, weshalb viele Reservisten durch ihre naturfarbenen Knobelbecher auffallen. Militärexperten wissen freilich, daß noch viel mehr fehlt. Die Luftwaffe, zum Beispiel, hatte bei Kriegsbeginn nur einen Bombenvorrat für dreißig Tage. Nahezu sämtliche kampffähigen Verbände hatten am Polenfeldzug teilnehmen müssen, wodurch die Verteidigung im Westen entblößt war. Mitten in den Kämpfen im Osten mussten die Hälfte der fliegenden Einheiten und viele Eliteverbände überstürzt vom Kriegsschauplatz abgezogen werden, um ein Debakel an der französischen Grenze zu verhindern.
Der Schlager der Saison heißt ›Komm zurück‹. In den Kinos zeigt man die Filme ›Die Reise nach Tilsit‹, ›Bel Ami‹, ›Es war eine rauschende Ballnacht‹, ›Opernball‹, ›Rosen in Tirol‹. Die meisten Streifen sind unpolitisch: Unterhaltung als Ablenkungsmanöver, ein originales Goebbels-Rezept. Die ›Mainbacher Zeitung‹ muß die Todesanzeigen Gefallener vor der Veröffentlichung der Gauleitung in Bayreuth vorlegen, die den Text dann willkürlich verändert. Die Nachricht über den Heldentod an der Front wird von der Post zuerst der Partei zugestellt; ein Hoheitsträger hat dann den Angehörigen die Mitteilung ›in würdiger Form‹ zu machen.
Für Sibylle, Mainbachs einsamste Braut, wurde die Schweigeauflage aufgehoben, seitdem das Wehrbezirkskommando amtlich gemeldet hatte, daß Dr. Hans Faber zu einem Panzerlehrbataillon eingezogen wurde. Vor einer Woche empfing sie mit einer Sendung gleich fünfmal Feldpost aus Polen, Lebenszeichen von Hans, Briefe voller Sehnsucht, Liebe und Einsamkeit.
Sibylle kennt sie längst auswendig und liest
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