Heldensabbat
sie doch immer wieder. Seit ihrem Examen arbeitet sie in der Firma »Bertrag« unter den Fittichen des Syndikus Dr. Fendrich. Sie faßt überraschend schnell Fuß, erkennt Zusammenhänge, sogar im persönlichen Bereich. Dass und warum sich ihre Eltern einander entfremdet haben, war ihr seit langem klar, aber als sie den neuen Gesellschaftervertrag der Firma liest, der ihren Vater entmachtet, weiß Sibylle auch, warum ihre bisher unterdrückte Mutter die Oberhand errungen hat. Gustav Bertram läßt sich in Mainbach noch weniger sehen, seit er seinen Aktienanteil an der Firma freiwillig auf zehn Prozent beschränkt hat.
Natürlich überlegt Sibylle, warum ihr Vater sich auf einmal so bescheiden zeigt, aber Mathilde Bertram weicht allen Fragen aus. Ihre erstaunliche Verwandlung vom Hausmütterchen in eine gepflegte Dame hält an.
Am Mittwoch, dem 8. Oktober, stürmt die Mutter ohne anzuklopfen aufgeregt in das Schlafzimmer Sibylles. »Sieh dir das an«, sagt sie. »Das gibt es doch nicht, das ist doch –«
»Was ist denn los?« fragt Sibylle verschlafen.
»Hier«, ruft Mathilde Bertram und weist auf einen ganzseitigen Artikel in der ›Mainbacher Zeitung‹ über die Kriegserlebnisse des Panzerregiments 35 mit einem Foto des Feldwebels Hans Faber. »Er wurde ausgezeichnet – die ganze Stadt ist aus dem Häuschen.«
Sibylle ist keine Germanistin wie der Mann ihrer Wahl, so stellt sie den Inhalt des Artikels über seine Form. Mag dieser PK-Bericht ein widerliches Hurra-Geschreibsel sein, jedenfalls geht daraus hervor, daß sich Hans künftig vor niemandem mehr zu verstecken braucht. Die junge Betriebswirtin mit dem frischen Gesicht und den brünetten Haaren geht ins Bad und ist jetzt genauso durchgedreht wie ihre Mutter. Sie ist noch nicht ganz fertig mit der Morgentoilette, als einer vor der Tür steht, der durch sein bloßes Auftauchen in der Villa der Bertrams beweist, wie recht sie hat. »Mensch, Claus, bist du nicht unvorsichtig?« fragt sie erschrocken.
»Entwarnung«, erwidert Hans Fabers Freund und schwenkt übermütig die Zeitung. »Was soll jetzt noch passieren? Hab' ich nicht einen prächtigen Soldaten an die Front geschickt? Wer könnte mir denn daraus einen Vorwurf machen?«
»Niemand«, bestätigt Sibylle und umarmt und küßt Claus. »Aber nun sieh zu, wie du Hans wieder zurückbringst.«
Lokalpatriotismus vergoldet den Rahmen für einen Fronthelden, doch nicht überall nimmt man die Ordensverleihung an den Reservisten Dr. Faber, der Gerüchten nach bis vor kurzem noch von der Polizei gesucht und sogar Selbstmord verübt haben sollte, so erfreut auf wie im Hause der Betroffenen. Mainbachs Gymnasium hat an diesem Tag seinen ersten Kriegsheros und zugleich seinen ersten Kriegstoten: Friedrich Krause, Abiturient des Jahrgangs 1935, ist als Flugzeugführer in einem Jagdgeschwader abgeschossen und ausgerechnet Studienassessor Faber, der politisch unsichere Kantonist, dekoriert worden.
»Es fallen doch immer die Falschen«, giftet Studienprofessor Pfeiffer und läßt bei seinem Gesinnungsfreund Dr. Zapf keinen Zweifel daran, daß er Faber lieber tot und Krause dafür mit dem EK I gesehen hätte. »Ob der Faber das geschwindelt hat?« fragt er hämisch.
»Na, na, Parteigenosse Pfeiffer«, bremst ihn der »Hydro«. »Vielleicht waren in Mainbach Heinzelmännchen am Werk, aber Sie glauben doch nicht, daß unser tapferes Panzerregiment 35 geschlossen einen Türken gebaut hat, um einen möglichen Feind der Bewegung zu decken?«
»Möglich ist alles«, entgegnet der Alt-Parteigenosse. »Gut, ich bewerte es als tätige Reue. Aber«, setzt er unmittelbar vor der Lehrerratssitzung hinzu, »ich behalte den Mann nach wie vor im Auge.«
Es geht um den neuen Lehrplan, von dem freilich heute keine Rede mehr sein kann. Fräulein Dr. Mühren bringt das eigentliche Thema aufs Tapet, obwohl es dem Oberstudiendirektor Dr. Schütz peinlich sein muß. Sie legt den aufgeschlagenen PK-Bericht auf den runden Tisch. »Ich glaube, das ist eine Auszeichnung für uns alle. Es ehrt unsere Schule – oder haben die anderen Anstalten auch so etwas vorzuweisen?« stellt sie fest.
Einige Lehrkräfte drücken sofort offene Zustimmung aus. Vorsichtige halten sich abwartend zurück.
»Kollege Faber ist fraglos ein sehr in sich gekehrter Mensch«, erklärt die hübsche Philologin, »aber doch wohl auch ein erstklassiger Pädagoge – und jetzt auch noch ein vorbildlicher Soldat.«
»Dieser Meinung kann ich mich nur
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