Heldensabbat
Angstkurve.
Der Seelöwe bleibt wasserscheu. Hitler verschiebt die Operation zunächst auf das kommende Jahr und sagt sie schließlich ganz ab. Gleichzeitig proklamiert er vor seinen wieder einmal entsetzten Generälen einen neuen Kriegsschauplatz: Rußland. Jetzt wagt ihm keiner mehr zu widersprechen. Der Generalstab erstellt für die ›Operation Barbarossa‹ die Aufmarschpläne des Überfalls auf die noch verbündete Sowjetunion. Bereits am 31. Januar sind sie fertig, aber durch italienische Rückschläge in Albanien, den drohenden Einmarsch der Engländer in Griechenland und durch einen Putsch in Belgrad sieht sich der Diktator gezwungen, sein »Lebensziel«, die Raumgewinnung im Osten, noch einmal zurückzustellen, zunächst um vier Wochen, die er später verlängern muß.
Am 6. April gibt Hitler den Befehl zum Losschlagen: Blitzkrieg auf dem Balkan. Es klappt wie immer oder womöglich noch besser. Von Bulgarien und Ungarn aus rollen deutsche Panzer gegen Jugoslawien und Griechenland. Bereits einen Tag später erreichen sie den Verkehrsknotenpunkt Skopje, am sechsten Tag Belgrad.
Die Griechen, denen die Engländer zu Hilfe kommen, wehren sich mit Entschlossenheit. Sie sind die ersten Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg, verschanzt hinter der Metaxas-Linie, den deutschen Stuka-Angriffen standhalten, während ihre australischen und neuseeländischen Verbündeten aus ihren Stellungen am Olymp geworfen und ein Dünkirchen auf dem Balkan erleben.
Sondermeldungen, Siegesfanfaren. Und Stefan Hartwig hat wiederum keine Chance, sich an der Front hervorzutun. Er hadert mit sich und der Kasernenwelt, ist zu den anderen ruppig, läuft von morgens bis abends mit einem Leckt-mich-am-Arsch-Gesicht herum, offensichtlich so niedergeschlagen, daß ihm seine Stubenkameraden bereits aus dem Weg gehen.
Post von zu Hause. Ein Brief seiner Eltern, beigelegt eine Todesanzeige aus der »Mainbacher Zeitung«, die wie der Blitz in seine Depressionen wuchtet: Sein Freund Rolf, Sibylles Bruder, ist über dem Isthmus von Korinth im Luftkampf mit englischen Jägern gefallen.
Die Hiobsbotschaft überfährt Stefan wie ein Lastwagen. Allmählich denkt er wieder geordnet, es dämmert dem Verstörten, daß er voraussichtlich nun doch vor dem Oberfähnrich Bertram zum Leutnant befördert werden wird – doch um welchen Preis!
Er denkt an Sibylle, die Frau seines früheren Ordinarius Dr. Faber, die am zweiten Weihnachtstag einen Sohn zur Welt gebracht hat; an Rolfs Mutter, auch an seinen Vater. Der alte Bertram ist zwar ein furchtbarer Nörgler und ein rechter Schreihals, aber Rolf, das war sein Augapfel.
Wie ist einem zumute, dem man den Augapfel ausgestochen hat!
Freilich, Verluste müssen gebracht werden für die große Sache, aber erstmals – und mehr unbewußt – fragt sich Stefan, ob die Verluste nicht doch vielleicht höher sein werden, als es die Sache wert ist.
Am nächsten Wochenende hat er Ausgang. Er sucht eine Kaschemme auf, in der es schwarzgebrannten Fusel gibt. Er säuft und lädt alle Umsitzenden ein, auch das wenig reizvolle Flittchen, laut Soldatensprache ein aufgelegtes LFG, ein leicht fickbares Geschöpf. Stefan säuft sie sich schön, und sie nimmt ihn mit auf ihre Bude. Als er mitten in der Nacht in einem fremden Bett erwacht, das Licht anknipst und die neben ihm Schlafende sieht, wird ihm übel.
Er springt auf, jagt auf die Toilette, kotzt sich aus. Er schlüpft in seine Uniform und geht zu Fuß zum Bahnhof zurück. Für das Taxi hat er kein Geld mehr, die Nutte hat ihm die letzte Mark Wehrsold abgenommen. Seine erste Liebesnacht hat sich Stefan weiß Gott anders vorgestellt. Und zum Kater am Morgen kommt noch ein Brennen in der Harnröhre. Er meldet sich beim Truppenarzt, steht unter anderen Sanierungssündern.
»Haben Sie sich die Gießkanne verbogen?« fragt der Oberarzt. »Weil ihr immer keinen Gummi nehmt, ihr Liederjane«, schimpft er und schüttelt den Kopf. »Barfuss zentnerschwere Weiber vögeln.« Er schiebt die Brille hoch, betrachtet das verdächtige Corpus delicti. »Sehen kann ich nichts«, stellt er fest. »Aber wir machen sicherheitshalber einen Abstrich.«
Es ist eine ziemlich schmerzhafte Prozedur, doch Stefan kneift die Hinterbacken zusammen und sagt sich, daß ihm ganz recht geschehe. An Claudia darf er gar nicht denken – aber Claudia war eine Pennälerliebe gewesen, ohne Hand und ohne Fuß, und vor allem ohne das Entscheidende.
Und jetzt ist er endlich ein Mann, wenn auch ein
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