Heldensabbat
schweinischer.
Mit der Zeit, als er sich sicher sein kann, seine Lotterpremiere ohne Folgen überstanden zu haben, nehmen seine Selbstvorwürfe wieder rapide ab, und er hört den Schilderungen der anderen von ›Tausend und einer Liebesnacht‹ fasziniert zu. Die meisten Erlebnisse sind wohl erfunden; aber dem Jungen erscheinen sie märchenhaft. Stefan sieht gut aus, die Mädchen lächeln ihm zu, auch wenn er noch keine Offiziersuniform trägt, und es muß doch noch etwas anderes geben zwischen der unberührten Claudia und dieser unappetitlichen Nutte. Eine Frau vielleicht, die sich nicht an die zimperlichen Moralregeln ihrer Umwelt hält und doch keine Gewerbliche ist, ein Mittelding. Er darf gar nicht daran denken; selbst im Dienst bekommt er jetzt manchmal einen Ständer.
Der gesamte Lehrgang wird auf ein Panzerübungsgelände bei Pasewalk verlegt. Von hier ist es nicht weit nach Stettin. Wenn er nicht irrt, hat der Führer hier im Lazarett nach dem Ersten Weltkrieg an einer Gasvergiftung blind gelegen, konnte aber später wieder sehen, und wie, und welch ein Glück!
Stefan wird jetzt zum O.A.-Gefreiten befördert, ist, äußerlich durch die Litzen als Offiziersanwärter kenntlich, längst kein Rekrut mehr. Samstags, sonntags fährt er nach Stettin, um etwas zu erleben. Auf einmal klingelt eine Erinnerung bei ihm: Stettin? War da nicht Lydia, die BDM-Führerin, die er einst in Mainbachs Wunderburgschule zu bewachen hatte? Natürlich: Er sieht sie mit ihren Glutaugen und ihrer schwarzen Haarpracht vor sich, ungemein reizvoll, auch wenn sie alles andere als sein Typ ist. Ihre Adresse, die ihm von ihr zugesteckt worden war, hat er weggeworfen, aber er hört sie in diesem Moment wieder sagen: »Besuch mich mal, wenn du zufällig nach Stettin kommst und deine Bewährung vielleicht schon hinter dir hast.«
Das ist schon eine Weile her, über zwei Jahre, und Stefan kennt nicht einmal Lydias Nachnamen. Aber dann hängt er den früheren Fähnleinführer heraus, meldet sich bei der Stettiner Bannführung und bittet, für ihn eine BDM-Führerin mit dem Vornamen Lydia ausfindig zu machen, die beim letzten Reichsparteitag an Mainbachs Wimpelweihe teilgenommen hat. Lydia ist längst dem BDM entwachsen, aber man findet ihren Namen noch im Karteikasten.
»Sie wohnt ganz in der Nähe«, sagt ein hauptamtlicher HJ-Führer. »Grüßen Sie sie schön von uns.«
»Wird gemacht. Vielen Dank und Heil Hitler.« Stefan schleicht um den Häuserblock, sucht den Namen Scherz, stellt fest, daß es die Parterrewohnung sein muß. Er wundert sich, daß eine Alleinstehende im Krieg noch ein eigenes Zuhause hat, klingelt mit unsicherem Zeigefinger und sieht Lydia in diesem Moment wieder vor sich, wie sie aus dem Duschraum kommt, im straffgewölbten Trikot. Ob sie noch so aussieht? Ob sie ihn wiedererkennen wird?
»Was wollen Sie?« fragte eine junge adrette Frau mit einer ganz anderen Frisur.
»Stefan Hartwig aus Mainbach«, präsentiert sich der Besucher hastig.
Lydia schüttelt den Kopf. »Ach, du bist das?« sagt sie dann in der Tür. »Na, komm rein. Laß dich mal ansehen.« Sie schließt die Tür, betrachtet den Besucher lange. »Bist ein bißchen männlicher geworden. Hast dich aber sonst kaum verändert.«
»Aber du, Lydia«, erwidert Stefan. »Du bist noch viel hübscher als damals.«
»Schau, schau«, entgegnet sie, »ein Blickloser wird sehend.« Sie lächelt. »Hast du deine Bewährung schon hinter dir?«
»Eben nicht«, stößt Stefan grimmig hervor.
»Wenn du dich bei mir bewähren willst, kommst du zu spät«, versetzt Lydia. »Ich bin inzwischen verheiratet. Darum ist es auch besser, wenn dich hier keiner der Hausbewohner sieht.«
»Und dein Mann?« fragt Stefan betroffen.
»Ist in der Nähe von Hamburg stationiert«, erklärt sie. »Früher war er Ingenieur.«
»Und jetzt ist er Soldat?« fragt Stefan.
»Nein«, entgegnet Lydia, »Oberfeldmeister beim Arbeitsdienst.«
Stefan will sich zurückziehen, aber er muß an den Feldmeister Weinrich denken, den Schleifer. Wenn er schon an dem Krieg gegen die Franzosen, Engländer, Serben, Kroaten und Griechen nicht teilnehmen kann, könnte er es vielleicht wenigstens mit dem Arbeitsdienst aufnehmen. »Wirfst du mich jetzt hinaus?« fragt er.
»Nicht, wenn du dich anständig benimmst«, erwidert sie.
»Und was nennst du anständig?«
Lydia holt eine Flasche Wein und stellt zwei Gläser auf den Tisch. »Setz dich und halt die Klappe«, antwortet sie. »Oder sprich
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