Heldensabbat
Er denkt jetzt mehr an Lydia als an die Frontbewährung. Die junge Frau ist ihm auf einmal wichtiger. Er kommt mit Blumen, er verliebt sich richtig in Lydia. Nicht fürs Leben – so viel hat er schon dazugelernt –, doch heftig.
Er ist traurig, als die Zeit abgelaufen ist, obwohl er jetzt bald an die Front kommen wird, denn es gibt einen neuen Kriegsschauplatz, Russland.
»Wir werden uns schon wieder sehen«, sagt Lydia, auch ziemlich mitgenommen.
»Verlass dich drauf«, verspricht Stefan. »Dann bin ich Offizier, Leutnant mit viel Lametta auf der Brust, und –«
»Und ich lass' mich vielleicht scheiden«, erwidert sie.
So sind die Träume des Jahres 1941.
Noch nehmen sie die Zweiundzwanzigjährige und der Junge ernst.
Am 22. Juni um 3 Uhr 15 beginnt mit dem Ostfeldzug der schnellste Vormarsch in den tiefsten Absturz der Militärgeschichte: Über drei Millionen deutsche Soldaten, aufgeteilt auf hundertzweiundfünfzig Divisionen, drei Viertel des gesamten Feldheeres, greifen ohne Kriegserklärung die Sowjetunion an – für Hitler ist Perfidie gleich Strategie.
Ihrer schlechten Nachrichtenverbindungen wegen brauchen die Russen vierundzwanzig Stunden, bis sie überhaupt wissen, daß sie sich im Krieg befinden. Am ersten Tag verliert die Rote Armee bereits – vorwiegend am Boden – zwölfhundert Flugzeuge. »Wenn ›Barbarossa‹ steigt«, hatte der Diktator bereits am 3. Februar 1941 erklärt, »hält die Welt den Atem an und verhält sich still.«
Am Bahnhof von Brest-Litowsk stehen noch die russischen Lieferungen für Deutschland. Vor einer Woche hat die »Prawda« offiziell dementiert, daß sich das deutsch-russische Verhältnis verschlechtert habe. Nach den ersten Sensationsmeldungen wendet sich das Weltinteresse wieder anderen Schauplätzen zu. Niemand sieht in dem Ostfeldzug einen Wendepunkt des Krieges, eher beurteilt man schadenfroh den brutalen Überfall als den Flauskrach zweier Gangster. Der vormalige Krawattenhändler und spätere US-Präsident Harry S. Truman stellt lapidar fest: »Wenn wir die Deutschen siegen sehen, sollten wir Rußland helfen, und wenn wir Rußland siegen sehen, sollten wir die Deutschen unterstützen, damit sich so viele wie möglich gegenseitig umbringen …«
Vormarsch auf einer Frontbreite von 3200 Kilometern zwischen der Arktis und dem Schwarzen Meer. Inmitten des gigantischen Aufmarsches Mainbachs Panzerregiment 35. Studienrat Dr. Hans Faber führt als Oberleutnant der Reserve eine mit Kampfwagen IV ausgerüstete Kompanie.
Er hatte an der Sonnenküste von Bordeaux gelegen. Per Bahn waren die Panzer an der Schweizer Grenze entlang nach Straßburg und über den Rhein geschafft worden. Langer Transport auf Umwegen; er ging über das Protektorat Böhmen und Mähren in das österreichische Burgenland. Zwischenspiel auf dem Truppenübungsplatz Warthelager, dann Bereitstellung im Aufmarschgebiet der Heeresgruppe Mitte, 100 Meter hinter dem Bug.
Während der umständlichen Verlegung hatte Faber sechzehn Tage Urlaub erhalten und zum ersten Mal seinen fast fünf Monate alten Sohn Hans, genannt Hänschen, gesehen. Der Urlauber hatte sich als ein zärtlicher, doch unbeholfener Vater erwiesen, der das Kind kaum anzufassen wagte.
»Der Kleine ist robuster, als du annimmst«, sagte sein Freund Robert. Der Mediziner hatte die Einberufung zur Wehrmacht erhalten und war gekommen, um seinem alten Gefährten Lebewohl zu sagen. Die etwas ungeschickte Art, in der der Vater mit seinem Sohn umging, nahm dem Abschied die Schwere. Robert Klimm wurde als Feldunterarzt eingezogen.
Nur Hänschen brachte Leben in ein Haus der Trauer. Die Bertrams litten schwer darunter, daß Rolf abgeschossen worden war. Sein Vater kam jetzt wieder häufiger nach Mainbach, ein Fremder im eigenen Haus. Er polterte nicht mehr; er verfiel sichtlich. Der Verlust des Sohnes hatte ihn schwerer getroffen als seine Entmachtung in der Firma.
Bald hat die Einheit Faber die Beresina überschritten. Es geht stürmisch vorwärts; Hitler hat für den wegen des Balkanfeldzuges um vier Wochen verschobenen Krieg im Osten insgesamt fünf Monate eingeplant, und tatsächlich kommen die Eroberer so rasch voran, daß die Stammtischstrategen zu Hause mit dem Stecken der Fähnchen auf der Landkarte kaum mehr nachkommen.
Die Panzer rollen und rollen, die Motoren verschleißen, der Vormarsch kommt zu Beginn täglich an die 100 Kilometer voran, die Munition ist verschossen. Kampfwagen, die Feuerwehr der Front, bleiben ohne
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