Heldensabbat
interessiert sich jeweils mehr für den Appendix als für das Gesicht. Vor Gott und dem Chirurgen sind alle Menschen gleich.
»Nicht sprechen«, wendet sich dann Dr. Klimm an den Patienten, »und keine Angst haben.« Er fühlt den Puls. Achtzig Herzschläge in der Minute, ganz normal.
Schwester Alexandra hat die Narkosemaske vorbereitet.
»So«, sagt der Assistenzarzt und fährt mit einer beruhigenden Geste dem Kranken noch einmal über die Haare, »und Sie beginnen zu zählen, wenn ich Ihnen das sage.«
Im Jahr 1939 wird die Narkose noch nicht von einem ärztlich kontrollierten Automaten genau nach Bedarf dosiert. Die Betäubung ist eine noch immer gefährliche und unbeliebte Prozedur, die man in schlechteren Krankenhäusern der ältesten OP-Schwester oder dem jüngsten Assistenzarzt anvertraut. Die Dosierung des Gifts war dann Glückssache: Gab man zu wenig, erwies sich die Narkose als ungenügend; reichte man dem Patienten eine Überdosis, vergiftete man ihn. Aus diesem Grund starben an der Anästhesie mehr Patienten als an der Operation selbst – freilich nicht in einer Klinik, die Professor Lobersdorff leitet. Er setzt – längst vor der allgemeinen Einführung – einen eigenen Anästhesisten ein und hat in Dr. Robert Klimm seinen besten Studenten für diese wichtige Aufgabe herangebildet. Er kann sich auf ihn verlassen und läßt ihm freie Hand. Der Professor würde nie ohne Zustimmung Klimms mit einem Eingriff beginnen. Wenn er sich in die Länge zieht, vergewissert er, die Kapazität, sich bei seinem Helfer, daß er die Operation nicht abbrechen muß.
Dr. Schütz würgt an einem Satz. Dann verdeckt die schüsseiförmige Äthermaske sein Gesicht. Er beginnt röchelnd zu zählen: »Eins, zwei, drei … elf, zwölf …« Bis zwanzig geht es regelmäßig. Dann purzeln die Zahlen durcheinander. Der Puls steigert sich bis hundert.
»Na, der ist hartnäckig«, bemerkt der Anästhesist zu Schwester Alexandra. »Wer ist das eigentlich?«
»Dr. Schütz«, erwidert sie. »Der Oberstudiendirektor des Gymnasiums.«
»Der ist das«, sagt Klimm überrascht. Er beugt sich über den Patienten.
Der Mann zählt nicht mehr, er spricht. Worte kommen hoch wie verdorbene Speise: »Ich – doch selbst unter Druck – war doch nie, nein, kein Nazi –«
Der Anästhesist dreht sich zur Schwester um: »Sagen Sie bitte dem Professor, daß ich noch ein paar Minuten brauche. Schwieriger Fall.«
Sie nickt und geht.
Dr. Schütz ist an der Grenze des Bewußtseins. Wieder kommen Wortbrocken hoch, halb verständlich und doch nur zu begreifbar.
Dr. Klimm hört die Herztöne ab. Keine Gefahr. Er lächelt. Er hat schon oft erlebt, daß Patienten im Ätherrausch sagten, was sie sonst ängstlich verbergen, und in diesem Fall war der Patient vermutlich durch das vorhergehende Gespräch mit dem Pastor emotionalisiert worden. Der Tisch wird in den Operationsraum gefahren.
»Herztätigkeit normal«, meldet der Assistenzarzt dem Professor sachlich. Er muß sich dazu zwingen. Seine Gedanken wirbeln durcheinander.
Die Operation verläuft glatt und schnell. Der Professor ist Spezialist. Er schneidet vielleicht den drei- oder vierhundertsten Blinddarm heraus. Jeder Griff sitzt. Seine Hände arbeiten ruhig, ohne Hast.
Aber sein Assistent ist heute unkonzentriert.
»Gut«, sagt der Professor, als er sich nach der Operation die Hände wäscht. Im Spiegel verfolgt er, wie sich Dr. Klimm mit einer fahrigen Bewegung den Gazestreifen vom Gesicht zieht und übereilig den Operationssaal verläßt.
Der Assistenzarzt stürzt in eine Telefonzelle, wählt eine Nummer, vergreift sich, wählt noch einmal. »Ich möchte sofort den Assessor Dr. Faber sprechen.«
»Der Herr Assessor ist im Unterricht«, antwortet eine träge Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Es ist wichtig«, sagt der Arzt. »Hier spricht Dr. Klimm.«
»Ich will's versuchen.«
Der Arzt wartet, zündet sich eine Zigarette an. Er lächelt gleichzeitig erleichtert und schadenfroh.
Nach vier Minuten ist Hans Faber am Apparat. »Was ist los, Robert?«
»Übermorgen ist der Zwanzigste.«
»Ja, und?«
»April, April. Hast du deinen Entschluß schon gefaßt?«
»Aber das weißt du doch.«
»Sieg Heil!« ruft Robert Klimm übermütig in die Muschel.
»Aber was ist denn?«
»Wir haben eben auf den Geburtstagstisch des Führers einen Blinddarm gelegt. Den Wurmfortsatz von Dr. Schütz.«
»Was soll das alles?«
»Paß auf«, fährt der Freund fort. »Ich habe einen Plan. Du
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