Heldenwinter
zaghaft und schwach aus ihrem halbgeöffnetem Mund. »Ist er fort?«
Er wusste sofort, wen sie meinte. »Ja. Du hast uns alle gerettet.«
Morritbi schlug einen winzigen Moment die Augen auf. »Aber wofür?« Ihre Lider fielen zu. Sie wälzte sich auf die Seite und schluchzte erstickt in den Samt.
Namakan ließ sie weinen, denn ihm fiel nichts ein, womit er sie hier und jetzt hätte trösten können. Seine Pein über ihre Tränen wurde ohnehin vom Glück überwogen, dass sie dem Tod entronnen war. So muss ich nur um einen Menschen mehr trauern …
Er betrachtete seinen Meister, und es war, als ob die Tränen, die Morritbi vergoss, Gesellschaft suchten, denn auch seine Augen wurden nun feucht. Er biss sich in die Handballen, um ein verzweifeltes Schluchzen zu unterdrücken, das aus seiner Kehle aufstieg. Es gelang ihm nicht ganz.
»Heul nicht, du Narr!«, herrschte ihn Eisarn vom Kutschbock aus an. »Es ist noch nicht die Zeit, sich den Bart zu raufen und die Brust mit Asche einzureiben. Er kommt wieder auf die Beine, das schwöre ich dir. So leicht bringt man einen Tegin nicht um!«
Angesichts der schrecklichen Wunde, die Dalarr erlitten hatte, klang die Behauptung des Zwergs töricht, doch Namakan krallte sich nichtsdestoweniger an ihr fest wie eine Klette in die Wolle eines Schafs.
Sieben Tage und sieben Nächte harrten die Wanderer bei Dalarr aus.
Sie hatten Zuflucht an einem höchst ungewöhnlichen Ort gefunden, jenseits der gezackten Mauer, die Silvretsodra teilte, lächerlich nahe an den Türmen von Arvids Palast. Sie verbrachten die Zeit in einer riesigen Halle, in der ein Teil des königlichen Fuhrparks untergestellt war.
Ihr Versteck war eine prächtige Kutsche mit silbernen Beschlägen an den Türen und weichen Polstern auf den Sitzen. Der Kasten des Dreiachsers war geräumiger als so manches Herbergszimmer, und selbst Kjell konnte darin aufrecht stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Die hinterste von vier Sitzbänken ließ sich zu einer Liege ausklappen, und darauf hatten die Wanderer Dalarr aufgebahrt.
Ihren bequemen Unterschlupf hatten sie einem Mann namens Kusk zu verdanken. Er hatte bestimmt so viele Sommer wie Ammorna gesehen, und auch sein Haar war weiß, doch im Gegensatz zu ihr hatte er sich im Alter ein Bäuchlein angefressen, das ihm wie eine fleischige Zunge über den Gürtel lappte. Namakan hatte rasch verstanden, dass Kusk derselbe Mann sein musste, dessen Hilfe Ammorna vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal eingefordert hatte – damals, als sie ein Gefährt gebraucht hatte, um den gerade erst verfluchten Kjell aus der Stadt zu schaffen. Namakan schrieb es den Erfahrungen in Liebesdingen zu, die er auf seiner Reise gemacht hatte, dass er ebenso rasch verstand, woher Kusks Hilfsbereitschaft rührte.
»Ja, wir haben uns einmal nahegestanden«, hatte Ammorna eingeräumt. »Er hat um mich geworben, als ich noch ein verzogenes reiches Gör war. Aber am Ende habe ich mich gegen ihn entschieden wie gegen so viele andere auch, und dann verlor mein Vater die Geduld mit mir und hielt es für angebracht, mich ins Kloster zu schicken.« Da hatte sie kurz versonnen auf ihre Fingerspitzen geblickt, die in diesen Tagen die ganze Zeit über unter ihren Handschuhen verborgen blieben. »Ich frage mich inzwischen, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist. Wenn jemand einem auch nach so vielen Sommern so zugetan ist, obwohl man ihn abgewiesen hat, erfährt man dies als ein großes Glück.«
Kusk versorgte die Wanderer mit allem, was sie brauchten: Wasser, Nahrung, Decken gegen die erste Winterkälte, die am Tag des großen Feuers in der Reichshauptstadt Einzug gehalten hatte.
In den ersten Tagen trieb Namakan die Sorge um, dass von den Untergebenen Kusks eine Gefahr ausgehen könnte. Es konnte ja nicht selbstverständlich sein, dass der Oberste Verwalter des königlichen Fuhrparks eine Schar sonderbarster Gäste in einer der ausgemusterten Reisekutschen des Herrschers von Tristborn einquartierte. Und noch weniger selbstverständlich konnte es sein, dass einer dieser Gäste jeden Morgen und jeden Abend grässliche Schreie ausstieß, von denen die Wände der Wagenhalle erzitterten.
Kusk hatte seine Truppe anscheinend jedoch ausgezeichnet im Griff. Die schweren Stiefelschritte der Stadtwache, die kamen, um liederliche Verräter einzusammeln und aufzuknüpfen, erklangen nur nachts in Namakans unruhigen Träumen.
Jeder der Wanderer hatte seine eigene Art, mit dem untätigen Warten umzugehen.
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