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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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So strapazierte Eisarn Kusks Gutmütigkeit aufs Dreistete, indem er immer wieder bei ihm auftauchte, um neue Leckereien anzufordern, mit denen er sich den Wanst vollschlagen konnte. Und wenn der Zwerg einmal nicht hungrig war, gab es ja immer noch seinen Durst zu stillen.
    Kjell unternahm tagsüber lange Streifzüge durch die Stadt und hielt die anderen über die Lage in und um Silvretsodra auf dem Laufenden. Die Entfesselung des Feuergeistes und das darauf folgende Massaker an den Skra Gul wurde Spitzeln der Pferdestämme zugeschrieben, die sich ungeachtet aller Sicherheitsvorkehrungen auf irgendeinem Weg in die Stadt geschlichen hatten. Der Brand hatte weite Teile des Hafens in Schutt und Asche gelegt, und nun fürchteten die Bürger, dass ihre Vorräte zur Neige gehen könnten. Alle beteten zu sämtlichen Göttern, dass ihr unerschrockener König bald siegreich heimkehren mochte – eine Kunde, die Namakan schier den Magen umdrehte, wenn er daran dachte, dass Arvid möglicherweise nicht nur allerlei Beutestücke, sondern auch die Plage im Gepäck haben könnte.
    Tschumilal schien sich am wenigsten daran zu stören, dass Dalarr so lange nicht zu Besinnung kam. Erst sah Namakan darin eine erschreckende Gleichgültigkeit, bis ihm gewahr wurde, dass die Elfentochter sehr viel länger an einer anderen Bahre gewacht hatte. Als er das Gespräch mit Tschumilal suchte, um sich für seine stummen Zweifel an ihrer Lauterkeit zu entschuldigen, offenbarte sie ihm die Traurigkeit, die sie hinter ihrer ruhigen Maske verhüllte. »Habe ich nicht versagt?«, rügte sie sich selbst. »Gab mir meine Mutter nicht eigens einen Pfeil, um an ihrer und meines Vaters statt Vergeltung zu üben? Den Pfeil, dessen Spitze sie aus der Schulter meines Vaters schnitt? Hätte Waldur nicht durch jenes Gift sterben sollen, mit dem er meinem Vater einen lebendigen Tod bescherte?« Namakan fand keine Antwort auf die Fragen der Elfe, von denen er sich nicht einmal sicher war, ob es echte Fragen waren, die nach einer Antwort verlangten.
    Ammorna kniete lange Stunden am Fußende von Dalarrs Liege und richtete in einem leiernden Singsang Fürbitten an die Gefiederte. »O Schwarzäugige, gib, dass das Unrecht nicht ungesühnt bleibt. O Krallenfüßige, mach, dass dieser Recke nicht den Weg ins Dunkel beschreitet. O Scharfschnäbelige, bereite es so, dass der Strom der Zeit für uns durch ein grünendes Tal fließt!«
    Morritbi, deren Haut heißer blieb, als dass Namakan und sie hätten einander Trost spenden können, tat alles in ihrer Macht Stehende, um Dalarrs Genesung voranzutreiben. Sie wusch ihn, salbte ihn mit Pasten, die sie mit Kräutern aus den Taschen an ihrem Gürtel anrührte, und reinigte seine Wunden. Der Schnitt auf der Stirn und der Stich in die Achsel heilten – die Haut schloss sich über ihnen zu breiten, weißen Narben. Morritbi beteuerte, es läge an dem Lied, das sie für Dalarr sang, wenn sie ihn pflegte.
     
    Es finde sich und binde sich,
    was Stahl und Arm geteilt.
    Es schlage stark und schlage frisch,
    dein Herz, das alles heilt.
    Namakan glaubte nicht recht daran, dass es allein der Hexengesang war, der Dalarrs Verletzungen so schnell linderte. Klang und Worte mochten womöglich wirklich zaubermächtig sein, doch wenn sie ausgereicht hätten, um Dalarrs Leib neue Kraft zu schenken, hätte nie ein Mensch sterben müssen, in dessen Nähe eine Hexe lebte.
    Namakan wich nur selten von Dalarrs Seite, und so konnte er nicht übersehen, was mit seinem Meister vor sich ging. Seine Wunden schließen sich, aber seine Wangen sind ganz eingefallen und er hat tiefe Ringe unter den Augen. Und da, da ist ein graues Haar in seinem Bart. Und da auch. Ich weiß, was hier geschieht. Er ist kein Mensch. Kein Mensch wie wir. Mit ihm geschieht etwas, was mit uns nie geschehen könnte. Sein Körper zehrt von seiner eigenen Kraft, von seiner eigenen, gerade zurückgewonnenen Jugend.
    Als Dalarr am Morgen des achten Tages endlich, endlich die Augen aufschlug, waren sie klar und wach, wie wenn er bloß einen winzigen Moment eingenickt gewesen wäre. Doch sie blickten aus einem Gesicht, das nun wieder die leisen Spuren eines Alters trug, das für Geschöpfe wie ihn nur eine flüchtige, wandelbare Bedeutung besaß. Es war nicht ganz sein alter Meister, den Namakan da zurückerhielt, und es kümmerte ihn auch nicht. Den alten Meister, den ich einmal gekannt habe, hat es ohnehin nie gegeben. Mein alter Meister ist daheim auf dem Gehöft geblieben. Eine

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