Heldenwinter
im Fahrtwind flatterten. Die Fahnen, auf die in goldenen Fäden das Wappen gestickt war, das Waldur in blutigen Schnitten auf Lodajas Leib angebracht hatte. Der feuerspeiende Drachenkopf. Das Zeichen Arvids.
Unser größter Feind bereitet uns den Weg, dachte Namakan mit einem mulmigen Gefühl. Den Weg zur Rache oder den Weg zum Untergang?
Nach einer tristen Fahrt entlang verschneiter Felder erreichten die Wanderer die Nadel. Sie unterschied sich in zwei Dingen von dem Eindruck, den sie Namakan aus der Ferne vermittelt hatte. Der Fels ist nicht glatt. Er ist zerklüftet und verwittert. Er schaute am grauen Sandstein nach oben zur Spitze der Nadel, die sich in den bleiernen Wolken zu verlieren schien. Hoch droben zogen einige Falken als scharfe Silhouetten ihre Kreise. Aber es sind viel zu wenig Vögel. Wie kann das sein? Von Silvretsodra wirkte es noch wie ein ganzer Schwarm …
Auch die Mengen an Kot, die rings um den Fuß der Nadel aufgetürmt waren und einen ätzenden Gestank verbreiteten, wiesen darauf hin, dass hier eine viel größere Zahl an Tieren leben müsste.
Begleitet von den schrillen Schreien der Falken stellten die Wanderer die Kutsche am Straßenrand ab. Dalarr führte sie auf ein Wachhäuschen zu, hinter dem eine beeindruckende Konstruktion aus Holzbalken, Flaschenzügen, Plattformen und Kurbeln am Fels der Nadel emporragte. Es hatte viel von einem der Gerüste, die Steinmetze errichteten, wenn sie vorhatten, einen großen Schrein zu bauen.
Einmal mehr erlebte Namakan, dass ein einziger Name eine Wirkung entfalten konnte, die der einer magischen Formel in nichts nachstand. Es kam anscheinend nur darauf an, wer den Namen sprach und für wessen Ohr er bestimmt war. In diesem besonderen Fall lautete der Name Hok Gammal, und der Soldat, dem Dalarr ihn nannte, salutierte stramm und bat die Wanderer, ihm zu folgen.
Der Aufstieg zur Spitze der Nadel erfolgte über einige Plattformen, die an dicken Tauen befestigt waren und mithilfe von Flaschenzügen in die schwindelnden Höhen befördert wurden. Ein halbes Dutzend Mal mussten die Wanderer die Plattform wechseln, indem sie über schmale, wacklige Stiegen gingen, deren niedrige Geländer selbst Namakan nur bis zur Hüfte reichten. Eisarn kam aus dem Jammern gar nicht mehr heraus, und bei den Plattformen bestand er stets auf einem Platz in der Mitte, während er bei jedem Ächzen der Stiegen ein geradezu weibisches Kreischen von sich gab. Namakan hingegen verlor sich ganz in einem faszinierenden Gefühl. Ein Gefühl, das er sonst nur vom Erklimmen der schroffsten Gipfel der Immergrünen Almen und aus seinen wiederkehrenden Träumen kannte, in denen er als Riese durch die Welt ging: viel, viel größer zu sein, als er tatsächlich war.
Die Vögel der Nadel hatten Aberdutzende Höhlen in die Felswand gegraben und jede von ihnen mit etlichen Klaftern Holz und ganzen Wagenladungen an Daunen gefüllt, um ihre Brut sicher und weich zu betten. Gern hätte Namakan ab und an innegehalten, um die rotgesprenkelten Gelege zu bestaunen oder dem hungrigen Piepen der nackten Küken zu lauschen, so ohrenbetäubend es auch sein mochte. Die Küken selbst waren – vor allem im Vergleich zu den majestätischen ausgewachsenen Vögeln – eher unansehnlich. Zu beunruhigend war das Pochen ihrer armdicken Adern unter der Haut mit den Pusteln, aus denen irgendwann Federn sprießen würden, und zu grässlich rollte die Falkenbrut ihre halbblinden Augen. Zu verstörend war das Schlagen ihrer bloßen Flügel, bei deren Anblick Namakan der Gedanke an Versehrte kam, die mit den Stümpfen ihrer Arme und Beine winkten.
Namakan bemerkte auch, dass die Brut nicht von Alttieren gefüttert wurde: Es waren Soldaten, meist junge Männer und Frauen, die den Küken ganze Hasen und Schweineviertel in die Nester warfen. Die Küken verschmähten ihr Futter nicht. Unter grellen Lauten zerteilten sie es mit ihren Hakenschnäbeln und schlangen die blutigen Brocken hinunter.
Auf einer festen Plattform standen sie schließlich Hok Gammal gegenüber. Der schlanke, glatzköpfige Mann, der vielleicht fünfzig Sommer zählte, trug eine enganliegende Uniform aus schwarzem Leder. Um seinen Hals baumelte an einer Kette eine kleine Pfeife aus Metall. Seine Züge wiesen eine große Ähnlichkeit zu denen der Tiere auf, die er zähmte und ritt. Und wie ein Falke manchmal den Kopf schief legte, ehe er sich zum Auffliegen entschloss, neigte auch Hok Gammal seinen Kopf, um Dalarr anzublicken. Dann huschte der
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