Heldenwinter
Erinnerung. Ein Traum. Eine Lüge. Aber wie kann ich diesen neuen Meister dann immer noch so sehr lieben?
Namakan war allein mit ihm, als Dalarr aus seiner Starre erwachte. Der Tegin richtete sich halb auf seiner Liege auf, wobei er Namakan eindringlich musterte, als müsste er sich ins Gedächtnis rufen, wen er da vor sich hatte.
»Du hast ihm die Ketten gegeben«, stellte Dalarr schließlich fest. Es klang nicht wie ein bitterer Vorwurf, nicht wie eine Enttäuschung.
»Ja«, sagte Namakan nur. Und ich schäme mich auch nicht dafür. Ich würde es wieder tun. Ich habe nur das getan, was du mir beigebracht hast. Ich habe eine eigene Entscheidung getroffen.
»Dann müssen wir los und sie uns zurückholen.« Dalarr schwang die Beine vom Polster und beugte sich nach vorn, um nach seinen Stiefeln zu greifen. »Wir haben schon genug Zeit verloren.« Er schaute auf. »Wie lange habe ich geruht?«
»Acht Tage.«
»Dridd!« Dalarr schlüpfte in den ersten Stiefel. »Dieser Hund ist bestimmt über alle Berge.« Er grinste. »Nein, er ist in den Bergen. In den Drachenschuppen.«
Will er einfach so tun, als sei nichts gewesen? »Dann setzen wir unsere Rache fort?«
»Natürlich.« Dalarr ließ den zweiten Stiefel sinken. »Ich habe einen Eid geschworen, du Fifl! Du warst doch dabei. Du bist mein Zeuge gewesen. Was ist los? Hat dich der Mut verlassen? Habe ich einen Jungen ohne Steine im Beutel großgezogen?«
»Waldur hat dich einmal besiegt«, sagte Namakan. »Weshalb glaubst du, dass er das nicht auch ein zweites Mal schaffen wird?« Und dieses Mal habe ich nichts mehr, wogegen ich dein Leben eintauschen könnte, Meister.
»Gibt man das Schmieden auf, wenn einem einmal eine Klinge misslingt?« Dalarrs Gesicht wurde ernst. »Wenn er mich töten wird, dann soll es so sein. Eine Welt, über die Könige von Waldurs Gnaden herrschen, ist es nicht wert, dass man in ihr lebt.«
Die Wanderer verließen Silvretsodra noch am gleichen Tag in der Kutsche, in der sie auf Dalarrs Genesung gewartet hatten.
»Du bekommst sie zurück«, versprach Dalarr Kusk, ehe er zu Namakan auf den Kutschbock kletterte. »Bald. Wir haben es nicht weit.«
»Arvid wird sie nicht vermissen«, sagte Kusk zum Abschied und konnte nicht ahnen, wie recht er damit hatte, falls Dalarrs Zuversicht mehr als nur aufmunternde Prahlerei war. Er tätschelte einem der vier Pferde, die vor die Kutsche gespannt waren, das Hinterteil. »Und Gäule hat er auch mehr als genug.«
Der Fuhrparkverwalter half Ammorna in die Kutsche, und er staunte nicht schlecht, als die Kroka-Dienerin ihm plötzlich einen Kuss auf die runden Wangen drückte, ehe sie im Kutschkasten verschwand. Er winkte ihnen lange nach, als sie aus der Halle fuhren.
Am Tor wurden die Wanderer nicht aufgehalten. Es galt das, was auch vor acht Tagen gegolten hatte: Die Flüchtlinge mussten draußen bleiben, aber wer immer auch aus der Stadt hinauswollte, dem wünschte man fröhlich eine gute Reise. Je weniger Mäuler zu stopfen waren, desto besser – gerade nach dem Brand am Hafen.
Dalarr hatte nicht gelogen, was die Strecke anbelangte, die sie mit der Kutsche zurücklegen wollten. Sie würden mit ihr nicht bis zu den Drachenschuppen fahren. Nur bis zur Nadel, der gigantischen Felsspitze, in der die Falken nisteten, die früher zur Insel der Sterbenden Schwingen geflogen waren, wenn der Tod sie rief. Dalarrs Schätzung zufolge würde die Gruppe die Nadel noch vor der Abenddämmerung erreichen.
Zunächst befürchtete Namakan, sein Meister könnte sich geirrt haben: Auf der Reichsstraße nach Nordosten strömten weitere Flüchtlinge aus der Büffelsteppe heran, ein endloser Zug von Wagen, Handkarren, murrenden Ochsen, weinenden Kindern und vor Elend verstummten, entwurzelten Bauersleuten. Als ihnen die Flüchtlinge Platz machten, indem sie sich an den Straßenrand zwängten, glaubte Namakan schon, sein Meister hätte eine seiner magischen Gesten vollführt. Eine, mit der man ein Menschenmeer teilen konnte. Warum auch nicht? Denn schließlich waren er und Waldur auch in der Lage, die Kräfte, die am Himmel wirkten, ihrem Willen zu unterwerfen. Was war schon ein Haufen verzweifelter Menschen gegen Wind und Wolken, Sturm und Schnee?
Doch als die Leute auch noch die Kappen und Hüte abnahmen, um sich zu verneigen, wenn die Kutsche vorüberfuhr, erkannte Namakan, dass hier eine andere Macht als die des Alten Geschlechts am Werk war. Es waren die beiden Fahnen, die an hohen Stangen neben dem Kutschbock
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