Heldenwinter
das Stückchen Holz zu wickeln. Wie von unsichtbaren Händen getragen stieg es auf, dem abgerissenen Hinterlauf entgegen.
»Was für ein Glück«, murmelte Dalarr, der dem unheimlichen Schauspiel keine weitere Aufmerksamkeit schenkte. Stattdessen wandte er sich der breiten Spur zu, die die Spinne durchs Unterholz gezogen hatte.
»Glück?«, wunderte sich Wikowar. »Wieso Glück?«
Dalarr ging auf den Rand der Narbe zu. »Weil wir jetzt wissen, dass es nicht mehr weit sein kann.« Er blickte erst in den Abgrund hinunter, dann entlang seines Verlaufs die Steigung hinauf und nickte schließlich zufrieden. »Ja. Dort vorne ist es.« Mit einer Hand auf dem Knauf von Blotuwakar drehte er sich zu dem Händler um. »Das ist die letzte Möglichkeit für dich«, sagte er ernst. »Die letzte Möglichkeit, das Richtige zu tun und umzukehren.«
Wikowar blickte unsicher zu dem eingesponnenen Tierlauf hinauf. Der Zweig, mit dem Namakan nach den Fäden gestochert hatte, war inzwischen so fest verschnürt wie das Beutestück selbst. Wikowars Hand tastete über die Schubfächer seines Bauchladens, als wollte er sich durch das klobige hölzerne Monstrum hindurch an die Brust fassen. »Ich kann nicht umkehren«, sagte er. »Das wäre schlecht fürs Geschäft.«
»Das habe ich mir gedacht.« Dalarr schürzte die Lippen. »Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Eine der schlimmsten Befürchtungen Namakans bewahrheitete sich. Ihr weiterer Weg führte nicht an der Narbe entlang. Er führte in die Narbe hinein.
Die Spur der Spinne endete nur wenige Schritte neben einem Einschnitt am Rand der Schlucht, der einen Abstieg ermöglichte. Es mochte durchaus sein, dass es sich hierbei einmal um eine Art Pfad gehandelt hatte, aber wenn dem tatsächlich so war, musste der Weg vor vielen, vielen Sommern angelegt worden sein. In der Zwischenzeit war er ohne jede Hege und Pflege den Elementen ausgesetzt gewesen. In zahllosen Kehren und Windungen führte er an der steilen Wand der Narbe entlang in die Tiefe.
Wir sind wie Ameisen, die auf einer alten Leiter krabbeln. Einer Leiter, deren Holme auseinanderklaffen und bei der jede einzelne Sprosse noch schiefer hängt als die davor.
Der Wind stürzte sich von den Hängen der Berge lustvoll in die gewaltige Erdspalte hinein, wo er um die Vorsprünge und Simse im Fels pfiff und heulte, als spielte er auf einem bizarren Instrument für die Ewigkeit.
Auf den schmaleren Abschnitten des Pfades wurde Namakan zu einem willfährigen Werkzeug seiner Angst vor dem lockenden Abgrund. Er ging seitwärts, mit dem Bauch zum Felsen, und suchte mit beiden Händen nach Halt in den Rissen. Er schaute nur nach vorn, zu Dalarr, der so selbstsicher voranschritt wie ein Mann auf einer breiten Brücke mit einem hohen Geländer.
Hinter ihm schnaubte und schnaufte Wikowar, und ab und zu hörte Namakan die Kiepe oder den Bauchladen des Händlers über den Stein schrammen.
Selbst hier – an der kahlen, nackten Wand der Narbe – stellte das Leben seine unbändige Kraft zur Schau. Wieder und wieder versperrten den Wanderern Bäume den Weg. Keine alten Waldriesen wie hoch über ihnen, sondern nur dürre, verwachsene Neuankömmlinge, die sich mit dünnen Wurzeln festkrallten und doch eines Tages von einem Sturm ausgerissen und hinab in die Narbe gewirbelt werden würden. Ihre Stämme waren dünner als ein Handgelenk und die Zahl ihrer kümmerlichen Äste und Blätter mitleiderregend, aber dennoch trotzten sie ihrem Schicksal mit beinahe rührender Beharrlichkeit.
Die Bäume, an denen sich die Wanderer nicht vorbeizwängen konnten, wurden auf andere Weise als durch den Sturm von ihrem elendigen Dasein erlöst. Dalarr zog Swiputir – die lange Klinge Blotuwakars wäre hier mehr Hindernis als Hilfe gewesen – und hackte mit kräftigen Schwüngen auf sie ein, bis er ihre Stämme durchtrennt hatte. Dann warf er sie achtlos beiseite, hinab zu jenem fernen Grund, zu dem Namakan nicht zu blicken wagte.
Es war nach der Beseitigung eines dieser Bäume, als Namakan das Netz zum ersten Mal sah. Es hatte nichts von der vollkommenen Symmetrie, wie er sie von vielen Spinnennetzen kannte – klare, feine Strukturen, die man mit einem schwachen Wischen zerstören konnte. Dieses Netz war anders. Seine Fäden – Hunderte? Tausende? Eine Zahl, für die es kein Wort mehr gab? – verliefen kreuz und quer von einer Wand der Narbe zur anderen, dick wie Taue. Als hätte eine wahnsinnige Näherin versucht, ein Loch in einem
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