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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Hemd zu stopfen, und dabei ein Geflecht geschaffen, das noch hässlicher, noch entstellender war als der ursprüngliche Riss im Stoff. Es sah aus, als würden nur diese grauen Fäden die Narbe davor bewahren, noch weiter aufzureißen, weiter und weiter, bis die ganze Welt gespalten war .
    Doch das war eine abwegige Vorstellung, denn der eigentliche Zweck des Netzes war nicht zu übersehen. Überall zwischen seinen Fäden hing die verschnürte Beute seiner Erbauer. Das Gespinst, das sie bedeckte, machte es schwer, ihre genaue Art auszumachen, aber in einigen Fällen genügte Namakans Fantasie, um die Formen zu deuten.
    Das da sind die gespreizten Schwingen eines Adlers. Und das, das muss das Gehörn eines Elchs sein. Das große Knäuel … steckt dort ein Bär drin? Bei den Untrennbaren, ja, ein Bär.
    Selbst Wikowar verschlug es bei diesem Anblick die Sprache.
    Dalarr hingegen nickte zufrieden. »Nur noch ein kleines Stück. Wir gehen über diesen Vorsprung dort unten hinein.«
    Namakans Beinmuskeln zitterten mit einem Mal mehr als nur von der bloßen Anstrengung des Abstiegs. »Wo hinein?«
    »Ins Netz natürlich«, antwortete Dalarr und ging weiter.
    Am Vorsprung angekommen, setzte Dalarr seinen Rucksack ab und begann, etwas daraus auszupacken.
    Aus der Nähe versetzte das Netz Namakan in noch größere Beunruhigung. Er ging in die Knie und kroch zum Rand des Vorsprungs, wo mehrere Dutzend der Fäden an der Felskante hafteten. Um kaum einen von ihnen hätte er die Hand schließen können. Sie waren straff gespannt und erinnerten ihn an die Zelte, die zum Fest der Tauenden Gletscher in den größeren Dörfern der Almen aufgestellt wurden.
    Als er noch kleiner gewesen war, hatten er und die anderen Kinder sich immer darauf gefreut, an den Seilen emporzuklettern. Einmal hatte er es sogar bis hinauf zum Dach des Zeltes geschafft, obwohl er in den Sommern davor mehrfach an dieser Aufgabe gescheitert war. Damals – als es endlich doch geklappt hatte – hatte er sich einfach gewünscht, seine Arme wären so lang wie die von Lodaja oder Dalarr. Zu seiner Überraschung hatte der Wunsch Wirkung gezeigt. Jedenfalls war er dann nicht wie ein nasser Sack an dem Seil gehangen wie sonst. Er hatte eine Kraft in seinen Armen gespürt, die ihm selbst ein wenig unheimlich gewesen war, aber als seine Finger das Öltuch des Zeltdachs berührt hatten, war dieses gruselige Gefühl – dieses Erschrecken vor sich selbst – verflogen gewesen. Er war nur noch stolz auf sich, stolz auf das, was er war. Und jetzt? Jetzt macht mich dieses Netz doch nur wieder zu einem Feigling.
    Er lugte über den Rand des Vorsprungs. Wenn wir hier abstürzen, fallen wir gar nicht ins Bodenlose. Wir landen im Netz. Er schaute zu einem der umsponnenen Tierkadaver auf, der einen Steinwurf entfernt als formloser Klumpen in den Strängen hing: Der Größe nach hätte es sehr gut der Steinbock sein können, auf dessen abgerissenes Bein sie vorhin gestoßen waren. Aber das Netz war klebrig. Die Fäden hielten einen fest. Wie sollten sie da durchklettern können? Die Narbe war an dieser Stelle eher schmal – höchstens sechzig oder siebzig Schritt lagen zwischen der Stelle, an der er kniete, und der Felswand auf der anderen Seite. Aber wir kommen da nie rüber. Wir hängen sofort fest, und dann kommen die Spinnen … Namakan schüttelte sich.
    »Ich will ja nicht unhöflich sein, Kowal Dalarr«, sprach Wikowar. »Aber willst du aus uns die ersten Fliegen in der Geschichte der Welt machen, die sich aus freien Stücken in einem Spinnennetz fangen lassen?« Der Händler hatte seinen Bauchladen abgesetzt und nutzte ihn als Hocker, während er Dalarr beim Wühlen im Rucksack zusah. »Oder war das mit dem neuen Weg über die Narbe nur ein Witz von dir, den ich nicht verstehe?«
    »Ich habe nie von einem neuen Weg gesprochen.« Er förderte die zwei Paar Waffen oder Werkzeuge zutage, die Namakan nur einmal kurz gesehen hatte, als er ihm den Racheschwur abgenommen hatte. Die, die vorher irgendwo in der Nähe des Gehöfts vergraben gewesen waren, und die Dalarr nach dem Überfall gemeinsam mit seinen Schwertern und seiner Rüstung dem Boden wieder entrissen hatte. »Und ich habe auch nie gesagt, dass es ein Spaziergang werden würde, oder?«
    Namakan stand auf, um die Gegenstände aus dem Rucksack näher in Augenschein zu nehmen. Das Auffälligste an ihnen waren die großen Haken, und Namakan wäre ein schlechter Schüler seines Meisters gewesen, wenn er nicht sofort den

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