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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Gleichgewichtssinn einen taumelnden Schwindel in ihm auslöste.
    Er schielte zu Dalarr. Sein Meister stand so steif da, wie ihn seine Spinne aus ihren Beißscheren entlassen hatte. Einige Schritte rechts neben seinen Füßen zuckte und wand sich das grausige Bündel, zu dem die Spinnen Wikowar verschnürt hatten. Nur sein Kopf ragte noch aus dem Gespinst hervor, als wäre er eine verpuppte Larve, die nach ihrer Verwandlung gerade begonnen hatte, ihren Kokon abzustreifen. Im Gegensatz zu den Gefangenen an den Wänden der Halle war sein Mund versiegelt, und auf dem Knebel schimmerte es feucht. Er blutet immer noch. Recht so.
    Namakans Blick pendelte zurück zu seinem Meister. Er bemerkte, dass Dalarr keineswegs auf die Schädel oder das Podest schaute. Er hatte die Augen weit geöffnet und so nach oben verdreht, dass er zu der in Dunkelheit verborgenen Decke aufsehen konnte.
    Namakan machte es ihm nach – und beschloss sofort, sich auch bis auf Weiteres zu verhalten, als wäre er aus Stein. Alles andere wäre eine Torheit gewesen. Und womöglich sogar ein unverzeihlicher Frevel.
    Die Spinne, die sich an einem Faden vom Durchmesser eines Gatterpfostens aus der Schwärze abseilte, stellte alle anderen buchstäblich in den Schatten. Zehn große Menschen hätten sich an den Armen fassen können und so ihren Hinterleib dennoch nicht umringt. Die Bemalung darauf – ein einziges, verschlungenes Symbol von purer Undeutbarkeit – hätte des Segels eines Windmühlenflügels als Leinwand bedurft, wenn man es hätte nachzeichnen wollen. Und man würde darüber den Verstand verlieren, wenn man so wahnsinnig wäre, dieses Zeichen in all seinen Einzelheiten abbilden zu wollen. Die Monstrosität verfügte nicht nur über ein Paar Beißscheren, sondern gleich über drei – gewaltige Sensen, die sicherlich Beine statt Kornhalme niedermähen konnten. In den Lücken zwischen den Paaren standen gebogene Stacheln lang wie Schwerter hervor, von deren Spitzen zäher Schleim troff. Gift. Wenn sie zornig wird, rammt sie einem die Stacheln in den Bauch und pumpt einen mit ihrem Gift voll. Namakan wehrte sich dagegen, doch sein Geist beschwor eine grässliche Vision, in der er den Stachel in sich pulsieren spürte. Wie sein ohnehin praller Bauch weiter und weiter anschwoll. Wie seine Eingeweide von der unvorstellbaren Masse an Schleim zusammengepresst wurden, bis sein Wanst sie nicht mehr zu fassen vermochte und er platzte wie eine überreife Frucht.
    Wenn diese Spinnen ein Volk sind, muss das ihre Königin sein, verriet ihm sein Grauen. Oder ihre Göttin.
    Unruhe entstand unter den Gefangenen an den Wänden, als sie selbst durch ihre unheimliche Entrücktheit der Präsenz dieser mächtigen Wesenheit gewahr wurden. Eine Präsenz, die beiläufig ein Netz zwischen Wachen und Träumen spann und die Gefangenen veranlasste, ihre Geheimnisse und ihr Wissen laut herauszuschreien.
    Ein Wollbulle röhrte.
    »Ich bin verrückt nach dem Geräusch, wenn Zähne unter Fäusten splittern!«
    Eine Krähe stieß ein schrilles Krächzen aus.
    »Das Gold ist in einer Höhle vergraben, neben dem Wasserfall mit den drei Weiden, eingeschlagen in ein blutiges Tuch!«
    Ein Lamm blökte.
    »Der Prinz weiß um sein Geschlecht, doch der König hält sich für einen Bettler!«
    Erst als die acht Beine der Spinne das Podest berührten, wurde aus den wilden Rufen nach und nach wieder jenes Wispern und Flüstern, das die Halle zuvor schon einmal erfüllt hatte. Aus der Nähe betrachtet bot die Spinne einen noch scheußlicheren Anblick, der alles infrage stellte, was Namakan je über die klare Grenze zwischen Mensch und Tier gelernt hatte. Aus der Oberseite des Vorderleibs sprossen Büschel langen, weißen Haars, in das Bänder und Knochen geflochten waren. Während die Augen der anderen Spinnen vollständig schwarz waren, funkelten die ihrer Gottkönigin in einem kühlen Gletscherblau, und sie besaßen bleiche Lider mit geschwungenen Wimpern. Vor der Schnürung zu ihrem Hinterleib baumelten zwei schlaffe Hautlappen, die Namakan zunächst an Weinschläuche gemahnten, bis er die Zitzen an den Enden der nutzlosen Brüste bemerkte. Als die Spinne die Beine streckte, um ihren Hinterleib zwischen ihnen nach vorne zu drücken und so den Spinnfaden zu kappen, sah Namakan, dass sich die Spinndrüse aus den gespaltenen Lippen einer ins Unermessliche gedehnten Scham wölbte. Bitte lass es nicht wahr sein. Bitte lass sie nie ein Mensch gewesen sein. Wie ist sie so geworden? War sie

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