Heldenwinter
weshalb die Bäume vor ihm lichter wurden: Ein Weg durchschnitt den Wald – unbefestigt und matschig wie der, der nach Tanngrund geführt hatte. Womöglich war es sogar ein und derselbe Weg, denn der Wagen mit dem Drachenwappen, den sie im Dorf gesehen hatten, stand mitten auf ihm.
Das Gefährt war wohl durch einen Achsbruch oder ein ähnlich schlimmes Missgeschick gleichsam zu einer Seite eingesackt. Einer der Rappen seines Gespanns lag zuckend und schnaubend im Schnee, die Hinterläufe im Todeskrampf ganz an den Leib herangezogen. Helles Blut schoss aus schrecklich klaffenden Wunden, die vom Geschirr bis zum Genick über den gesamten Hals des Tiers verliefen. Namakan musste unwillkürlich an den Nachgang der Schlacht von Kluvitfrost denken und richtete ein Stoßgebet an das Untrennbare Paar. Bitte, bitte, bitte, lasst es so liegenbleiben. Bitte, bitte, bitte, lasst es nie wieder aufstehen.
Das zweite Pferd – die Ohren angelegt, die Augen schier aus ihren Höhlen springend – bäumte sich unablässig auf. Sein Wiehern hatte etwas verstörend Menschliches an sich und erinnerte an die verzweifelten Hilfeschreie eines Kindes, das auf einem zugefrorenen See im Eis eingebrochen war.
Die weißhaarige Frau in den schwarzen Roben, die in Tanngrund mitgeholfen hatte, das Korn zu verteilen, stand vor dem Wagen. Sie hielt die Quelle des Lichts, die den Schwarzen Hain erhellte, in den Händen: einen Stab, der auf seiner gesamten Länge von innen heraus glühte und an beiden Enden in gekrümmte Krallen wie von einem zupackenden Greifvogel auslief.
»Hüterin des Wissens, Mutter alles Kommenden«, rief die Frau und hielt den Stab dabei hoch über ihren Kopf. »Breite deine Schwingen schützend über mich und errette mich aus meiner Not!«
In die Wipfel von drei oder vier der Barttannen geriet Bewegung. Sie federten nach, als wären sie soeben von einer schweren Last befreit worden, und Schnee wirbelte von ihnen zu allen Seiten davon. Die Klauenschatten waren schlagartig verstummt, als ob man ihnen allen auf einmal die Hälse umgedreht hätte.
»Ja, fürchtet mich und die Macht meiner Göttin!«, schrie die Frau mit dem Stab triumphierend. »Hier gibt es nichts für euch zu holen, ihr Bestien!«
Wo ist ihr Begleiter von vorhin? Der Mann mit der zerbeulten Rüstung. Warum hilft er ihr nicht? Fasziniert von dem magischen Schauspiel – denn was anderes als Zauberei konnte hier wirken und den Stab zum Leuchten bringen? – näherte sich Namakan dem Wagen. Die Klauenschatten müssen ihn schon geholt haben!
»Runter, du Narr!«
Reflexhaft befolgte Namakan den harsch gebellten Befehl seines Meisters. Er warf sich nach vorn in den matschigen Schnee. Ein Schatten glitt über ihn hinweg und auf Dalarr zu, der sich gerade aus der Deckung eines Baumstamms gelöst hatte. Ein zweiter Schatten kreuzte die Gleitbahn des ersten, und Namakan hörte die Frau in den schwarzen Roben entsetzt aufschreien.
Die Bestie – groß wie ein Pony, die ledrigen Häute zwischen den Vorder- und Hinterbeinen straff gespannt wie Segel – prallte gegen seinen Meister. Dalarr wurde angehoben und fünf, sechs Schritte durch die Luft getragen. Dann wurden Räuber und Beute von ihrem gemeinsamen Gewicht zurück auf den Waldboden geholt. Sie rollten ein Stück ineinander verkeilt weiter, das Tier fauchend, Dalarr vor Wut oder Schmerz oder beidem heiser brüllend.
Namakan rappelte sich auf. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie die Frau vor dem Wagen zu einem weiten Schlag ausholte. Er bekam nicht mit, ob sie traf. Er spurtete auf den Klauenschatten zu, der seinen Meister inzwischen unter sich begraben hatte, eine zuckende, mit den Klauen scharrende Decke aus schwarz glänzendem Fell und sehnigen Muskeln.
Im Laufen packte Namakan den Griff seines Dolchs mit beiden Händen und hob ihn hoch über den Kopf. Er schnellte vor und stieß dem Untier die Klinge in den Rücken. Vom heftigen Schwung seines Angriffs getragen, landete Namakan halb ausgestreckt auf dem unfassbar weichen Pelz der Bestie. Sie stank nach scharfen Ausdünstungen, die Namakan sofort würgen ließen.
Bittere Galle quoll ihm in den Mund und über die Lippen. Er zerrte hustend an seiner Waffe, die ins Fleisch seines Gegners versenkt war. Die scharfe Klinge des Dolchs schnitt tiefer und tiefer in den Leib des Klauenschattens, und Namakan spürte es heiß und nass um seine um den Griff verschränkten Finger sprudeln.
Ich darf nicht loslassen. Wenn ich loslasse, bin ich wehrlos.
Der
Weitere Kostenlose Bücher