Heldenzorn: Roman (German Edition)
Willen zu folgen, hatte er da gedacht.
Kurz darauf hatte ihm ein anderer Sklave mitgeteilt, dass Nesca ihn allein zu sprechen wünschte. Er war dem blonden Jungen in das Zimmer gefolgt, in dem ihn die Tochter des Dominex sehen wollte. In dem großen, hohen Raum roch es nach altem Papier und Pergament. In Schränken, für die man Leitern brauchte, um an die obersten Regale zu gelangen, warteten Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Büchern und Schriftrollen darauf, gelesen zu werden. Dutzenden ihrer Artgenossen war das Glück beschieden, dass Nesca Gefallen an ihnen gefunden hatte. Sie lagen mal zugeklappt, mal aufgeschlagen auf Podesten, Sesseln, Hockern und Bänken, und Teriasch sah Zeile um Zeile von Schriftzeichen, die er nicht kannte, und Zeichnungen von so unterschiedlichen Dingen wie Häusern, Tieren, Menschen und Pflanzen.
Dann stand er schließlich vor der Frau, die sich offenbar nicht so recht entscheiden konnte, an welchem Schriftstück sie ihren Wissensdurst zuerst stillen wollte. Und sie machte ihm Komplimente dafür, wie gut ihm sein neuer Schmuck stand, der doch nichts anderes war als ein sichtbares Symbol seiner Unfreiheit.
»Du scheinst dich nicht zu freuen.« Sie schlug das Buch auf ihrem Schoß zu, stand auf und schlackerte an ihrer schlichten blauen Robe, bis der Saum wieder züchtig bis zu ihren Knöcheln herabfiel. »Ich vergesse immer wieder, wie fremd dir das hier alles erscheinen muss. Ich will dir etwas zeigen.«
Aus einer Nische zwischen zwei Schränken trat Carda hervor und nickte Teriasch zur Begrüßung zu. »Ich nehme an, wir suchen Euer Refugium auf, Hoheit«, sagte sie zu Nesca.
»So ist es.« Nesca setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Es wird ihm bestimmt gefallen.«
Zu dritt durchquerten sie die Bücherhalle. Carda zog eine Flügeltür auf, auf deren dunklem Holz helle Intarsien schimmerten, die zwei Pferde im gestreckten Galopp über ein Meer aus Gras zeigten.
Teriasch folgte Nesca in den dahinterliegenden Raum und sah sich ungläubig um. Es war, als würde die Tür auf magische Weise zwei weit entfernte Orte miteinander verbinden – die Gemächer Nescas inmitten der Hauptstadt der Harten Menschen mit dem Zelt eines Häuptlings der Pferdestämme. Auf dicken Teppichen, deren eingewebte Wellenmuster den ewigen Wandel der Welt nachzuahmen suchten, lagen Kissen verstreut, deren Leder von dem Fett glänzte, mit dem es eingerieben worden war, um es geschmeidig zu halten. An sechs Pfosten aus Knochenholz, in die die Gesichter der Ahnen geschnitzt waren, hingen zahlreiche Trophäen bedeutender Taten: Adlerklauen, getrocknete Bärentatzen, Schilde, Keulen und Pfeile ehrenhaft bezwungener Feinde, Talismane und Fetische aus Federn, Steinen und Gebeinen, die bösen Schamanen entrungen worden waren. Über einer kalten Feuerstelle hing der bauchige Kessel aus Bronze, in den alle Mitglieder der Sippe einmal jeden Sommer ihr Blut gaben, um es mit Milch und Bitterbeeren zu einem dicken Brei zu verkochen, von dem alle kosteten – zur Erinnerung an jenen schrecklichen und zugleich schönen Tag vor langer, langer Zeit, als die Ewige Wanderin die Große Sippe aus dem verfluchten Samarna fortgeführt und ihr aufgetragen hatte, fortan in vielen kleinen Sippen über die Steppe zu ziehen. Am Ehrenplatz für den Häuptling lag sein Sattel, ein meisterlich gefertigtes Stück aus schwarzem Holz und rotem Leder, das Blatt mit weißen Perlen bestickt, der Knauf in Form eines Pferdekopfs mit wehender Mähne.
Abgesehen von den fehlenden Gerüchen von Schweiß, Rauch und Kräutersud machte nur ein weiteres Detail die Illusion unglaubwürdig: Diesem Zelt mangelte es an aufgespannten Häuten, deren Bilder dem Betrachter etwas darüber berichteten, wer hier in vergangenen Tagen gelebt hatte. In einem Zelt wie diesem hätten viele Dutzend Häute an den Streben hängen müssen, doch es gab nur eine einzige Haut, hinter dem Häuptlingssattel, die einmal einer Frau gehört hatte – einer Frau, die anhand der geringen Zahl an Falten jung den Weg zu ihren Ahnen angetreten war.
»Das ist meine Mutter«, hauchte Nesca ehrfürchtig. »Tamni von den Kindern der Weite. Als sie krank wurde und ihre Finger schwarz, hat mein Vater ihr das größte Grabmal der Welt versprochen, doch sie wollte es nicht. Sie wollte nur, dass er so mit ihrem Körper verfährt, wie es in ihrer Heimat Sitte ist.«
Teriasch folgte den Traditionen, denen er sein Leben lang gefolgt war. Er grüßte die Haut, indem er die Finger dort auf sie
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