Helix
am Ufer, und der Junge zwingt sich, seinen ängstlich beschleunigten Atem dem Rauschen der Brandung anzupassen.
»Entspanne dich«, sagt sein Vater. »Schwebe einfach nur. Lass das Meer die Arbeit tun. Ich lasse dich gleich los.«
Sein Vater lässt ihn los, hält aber die Arme bereit, um sein Kind zu stützen, falls es untergeht. Es geht nicht unter. Der kleine Junge schwebt und wird auf den langen Wellen gehoben und gesenkt. Die Augen tapfer geschlossen, die Armchen weit ausgestreckt, die mageren Beine gespreizt, liegt er auf dem Wasser.
Ohne die Augen zu öffnen, lächelt das Kind vor Angst und Freude zugleich. Dann wird das Geräusch der Brandung sehr laut.
Roth öffnet die Augen. Aus dem Geräusch der Brandung wird das Geräusch des Luftzugs eines Ventilators in der abgedunkelten Ersten Klasse der 747, und Norman Roth ist kein kleiner Junge mehr, sondern ein müder Mann in mittleren Jahren. Er reibt sich die Augen, stellt die Düse über seinem Platz nach und schließt wieder die Augen.
Ein abgedunkelter Raum in einem Krankenhaus. Roth, anscheinend im gleichen Alter wie im Flugzeug, sitzt in den dunkelsten Stunden der Nacht am Sterbebett seines Vaters. Der alte Mann liegt jetzt seit drei Tagen im Koma. Erschöpft und einsam lauscht Roth in der Dunkelheit den mühsamen Atemzügen seines Vaters – gar nicht so anders als die Geräusche der Brandung an jenem längst vergessenen Strand von Long Island. Roth sieht im schwachen Licht auf seine Uhr.
Plötzlich richtet sich sein Vater kerzengerade im Bett auf. Der alte Mann hat die Augen geöffnet und starrt auf irgendetwas, das sich jenseits des Betts hinter dem Fußende befindet. Sein Blick ist nicht ängstlich, sondern aufmerksam – sehr, sehr aufmerksam.
Erschrocken beugt Roth sich vor und legt dem alten Mann den Arm um die vom Krebs schmal gewordenen Schultern. »Dad?«
Sein Vater ignoriert ihn und starrt weiter. Langsam hebt der alte Mann den rechten Arm und deutet auf irgendetwas hinter dem Fußende des Betts.
Roth schaut hin. Dort ist nichts. Das Rauschen der Brandung ist sehr laut.
Roth wird am Moskauer Flughafen Scheremetjewo von einer attraktiven Frau abgeholt, die sich als Dr. Vasilisa Iwanowa vorstellt. Sie ist seine Kontaktperson und dient ihm während seines Aufenthalts als Dolmetscherin. Während sie sich die Hände schütteln, sieht sie, wie sein Gesichtsausdruck sich verändert. »Stimmt etwas nicht, Mr. Roth?«
»Nein, nein … alles in Ordnung. Es ist nur so, dass Sie mich an jemanden erinnern.« Roth hat so etwas noch nie zu einer Frau gesagt.
Vasilisa lächelt zweifelnd.
»Sie erinnern mich sehr an jemanden, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wer es war«, fährt Roth mit verlegenem Lächeln fort. »Vermutlich ist es nur der Jetlag. Oder das Alter.«
»Wie auch immer«, entgegnet Vasilisa. »Jedenfalls ist es uns eine Ehre, einen so berühmten Schriftsteller zu Gast zu haben, der etwas über unser Programm schreiben wird. Sie haben ja den amerikanischen Pulitzer-Preis gewonnen und hätten beinahe den Nobelpreis für Literatur bekommen. Wir fühlen uns geehrt.«
»Knapp daneben zählt nur bei Hufeisen und Handgranaten«, meint Roth müde.
»Wie bitte?«
»Ein dummer amerikanischer Spruch«, sagt Roth. »Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch. Sind Sie von Energia, oder arbeiten Sie für das PR-Büro der russischen Raumfahrtbehörde?«
Jetzt ist es an Vasilisa, humorlos zu lächeln. »Ich war Flugärztin bei TsUP. Nachdem die Mir abgestürzt war, hat man die Zahl der Ärzte in der russischen Raumfahrtbehörde reduziert, und ich ging lieber in die Verwaltung, als das Programm ganz und gar zu verlassen. Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil ich die Chance wahrnehmen wollte, Sie herumzuführen.«
»Was für eine Suppe?«, fragt Roth.
»TsUP«, wiederholt sie. Es ist das Akronym für das Kontrollzentrum der russischen Raumfahrtbehörde.
Sie treten ins Schneegestöber hinaus. Ein Mercedes mit Fahrer wartet schon auf sie.
»Waren Sie schon einmal in Russland, Mr. Roth?«
»Nennen Sie mich doch Norman. Ja, ich war schon einmal hier. Anfang der Achtzigerjahre. Ich habe eine Literaturkonferenz besucht.«
»Hat der Besuch Ihre Ansichten verändert?«, fragt Vasilisa, während das Auto sich in den fließenden Verkehr einfädelt.
Roth beobachtet den Verkehr. Er ist viel stärker als damals bei seinem ersten Besuch, vor beinahe zwanzig Jahren. Mercedes und andere ausländische Luxuswagen liefern sich auf den Schnellstraßen
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