Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
Erfolg kurzlebiger denn je geworden ist. Bereits ein Jahr nach dem Start ihrer schwarz-gelben, parlamentarisch gut abgesicherten Regierung erscheint ein Scheitern dieses Projekts als ziemlich wahrscheinlich.
Möglicherweise sind die politischen Abstürze eines Gerhard Schröder oder einer Angela Merkel darauf zurückzuführen, dass ihr Verständnis von Machtausübung, das noch aus der alten Bundesrepublik stammt, nicht mehr zeitgemäß ist. Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehr politische Beteiligung. Dieses Verständnis wird den neuen, erstarkenden Kräften „von unten“, dem Ruf von Bürgerinnen und Bürgern nach Mitsprache und nach Volksentscheiden über wichtige Projekte, nicht mehr gerecht. Es gibt Anzeichen dafür, dass die ersten Jahre der Berliner Republik, was ihre politische Kultur angeht, nur eine Übergangszeit waren. Mit kleiner gewordenen Parteien, deren Status als Volkspartei schwindet, und mit neuen demokratischen Spielregeln wie der Schlichtung oder gar der Volksabstimmung findet die neue, die Berliner Republik möglicherweise zu einer eigenen Identität. Die Politik würde damit nachvollziehen, was in Wirtschaft und Gesellschaft schon lange Platz gegriffen hat, eine Abkehr von der autoritativen Führungskultur hin zu einvernehmlicheren, ja sogar teamorientierten Formen. Der „Spiegel“, einst vom Autokraten Rudolf Augstein gegründet und lange geführt, hat inzwischen zwei Chefredakteure als journalistische Leitung. Die Bundesrepublik wird das Amt des Bundeskanzlers nie mit zwei Personen besetzen, aber das Modell einer Doppelspitze, wie es die Grünen praktizieren, ist entgegen manchen Erwartungen quicklebendig.
Helmut Schmidt, einst Mitglied der legendären, weil politisch machtvollen SPD-Troika, toleriert solche Entwicklungen nicht. Seine Prägung im Nazi-Deutschland und im Weltkrieg führte zu einem pessimistischen Menschenbild. Menschen sind, so Schmidts Überzeugung, verführbar – und in der Masse sind sie es noch mehr. Helmut Schmidt warnt bis heute eindringlich vor plebiszitären Elementen im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder. Die Bürgerinnen und Bürger könnten die Tragweite politischer Entscheidungen nicht überschauen. Deshalb müsse das politische Geschäft von jenen gemacht werden, die dafür gewählt worden seien und sich täglich darum kümmerten.
Andere „Jahrhundertleben“ wie der in Tübingen 94-jährig verstorbene Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg haben ebenfalls vehement vor Elementen direkter Demokratie gewarnt. Theodor Eschenburg leitete die Sorge, dass jede Volksabstimmung ein Exempel statuiere und früher oder später parlamentarisch gefällte Entscheidungen nicht mehr akzeptiert würden. Plebiszitäre Elemente stellten „das in einem langen historischen Prozess errungene Prinzip infrage, dass ein Mehrheitsbeschluss auch die Minderheiten“ binde. „Wo dieser Grundsatz, das Sanctissimum der Demokratie, nicht mehr respektiert wird, wird die Demokratie selbst erschüttert.“
Es sind aber auch immer wieder die ganz Alten, die einem „Wind of Change“ die Tür aufstoßen. In Zeiten der Maueröffnung 1989 gehörte der greise Willy Brandt zu den jüngsten, visionärsten Denkern seiner Zeit. 2010, als das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ bundesweit die Gemüter erregt, moderiert der 80-jährige Heiner Geißler Schlichtungsgespräche zwischen Gegnern und Befürwortern, die obendrein live im Fernsehen gesendet werden. Er deklariert das Verfahren zum mustergültigen Präzedenzfall für die künftige demokratische Entscheidungsfindung.
Helmut Schmidt gibt, was „Stuttgart 21“ angeht, den Medien die Schuld an dem entstandenen Aufruhr. Im Gespräch mit Sandra Maischberger 2010 beklagt er, sie hätten es versäumt, die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig über die Tragweite des Projekts zu informieren. Und er lässt durchblicken, dass er ein regionalesBauvorhaben wie den neuen Stuttgarter Bahnhof nicht der großen Aufregung wert hält. Zu seiner Zeit hätten die Menschen wenigstens noch wegen existenzieller Themen wie der Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik protestiert.
Nach diesem „Stuttgart 21“-Prozess ist die Berliner Republik nicht mehr die alte. Milliardenprojekte bedürfen künftig der Beteiligung außerparlamentarischer Experten und Bürgerinitiativen, auf dass ein neues Verständnis von demokratischem Konsens praktiziert werde.
Mit öffentlichen Schlichtungen wie zu „Stuttgart 21“ entfernt sich die
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