Hendlmord: Ein Starnberger-See-Krimi (German Edition)
Lücke auf, gegen Mittag oder früher Nachmittag, passt das?» Morgen sagt er immer. Da muss ich wohl oder übel einverstanden sein und lege auf.
Ich laufe Richtung Hühnerstall. Davor steht eine Schlange, als gäbe es etwas umsonst. Die Gretl mit ihrem Rollator und dem gepunkteten Plastikkopftuch, das Pflaum-Ehepaar, das bei uns draußen am Feldweg wohnt, und die Textilstubenzwillinge, wie üblich mit einem Wollknäuel in der Jackentasche und dem Strickzeug in der Hand. Wer weiß, ob bei der Warterei, worauf auch immer, nicht ein Paar Socken fertig werden. Sie arbeiten sich Masche für Masche, Nadel für Nadel, in Trippelschritten bis zu dem großen Fenster vor, das ich aus Fidls früherem Atelier vorne im Bauwagen-Hühnerstall eingebaut habe. Was wollen die hier?
Ein Fensterflügel öffnet sich, und ein kleiner Arm im roten Steppanorak winkt den Nächsten heran. Emma! Sie hat mich ausgetrickst mit ihrer abgesperrten Zimmertür. Die Gretl bückt sich und spricht seitlich durch den Schlupf wie in einen Beichtstuhl. Was machen die da bloß? Wollen die sich alle im hohen Alter noch Windpocken abholen? Oder interessieren sie sich für die Krallen vom armen Fuggerjakl? Hängt an Hühnerfüßen nicht irgendein Aberglauben dran? Die hätte ich doch besser gleich wegräumen sollen. Wo unsere Tochter ist, ist immer was los. Nicht immer was Gutes. Emma zieht die Leute an wie das Kleisterpapier die Fliegen. Das war schon so, als sie gerade erst sprechen konnte und in der Sandkiste gespielt hat. Über den Gartenzaun haben die Spaziergänger mit ihr geratscht und dabei auch Fragen gestellt, und sie hat, ohne vom Sandkuchenbacken aufzuschauen, geantwortet, in den Worten, die sie schon kannte: Traktor, Desda, Mama, Papa, Stinki, Emil, Hühner, Magichnicht, Chiller, Oma, Opa, Singen, Bettigehen. Mehr war das, glaub ich, damals noch nicht. Orakel-Emma hat sie einer der Zaungäste damals genannt. Der ist mir in Erinnerung geblieben. Ein Mann, der Handschuhe im Sommer trug und wie einer von der Spurensicherung aussah. Kein Pöckinger, irgendein Fremder von jenseits des Landkreises, der sich durch einen Wanderführer hierher verirrt hatte. Er wollte sich gar nicht ganz an unseren Zaun anlehnen, obwohl ich die Latten frisch erneuert hatte. Fasziniert schaute er unserer Tochter zu, wie sie im Sand matschte. Dann fragte er sie, warum er das nie könnte, warum er sich sofort die Hände waschen müsste, wenn er irgendetwas angelangt hätte.
«Mama», sagte Emma, und irgendwie ging ihm da ein Licht auf, wieso auch immer. Ein anderer war zufrieden mit «Bettigehen». Und so standen in den nächsten Tagen noch mehr Leute am Zaun, ein richtiges Frage-und-Antwort-Spiel. Es wäre noch zu einem Auflauf gekommen, wenn ich diese ganzen Bittsteller nach ein paar Tagen nicht verscheucht hätte. Aber auch wenn niemand bei Emma ist, spricht sie mit Wesen, die für uns unsichtbar sind. Die Sophie hat mal gesagt, ich würde mich um die Wehwehchen der Leute kümmern und die Emma um ihre Wünsche. Aber dass sogar Gehbehinderte hier heraushatschen, als wäre es ein Wallfahrtsort, das ist mir neu.
«Lasst mir das Kind in Ruh», rufe ich von weitem.
«Geh, Muck, beruhig dich», sagt die Gretl. «Sie erzählt uns nur, wie tragisch das mit deinen Hühnern ist.»
«Das glaubst du doch selber nicht.» Fast werde ich narrisch. «Hast nicht du immer gesagt, dass man nicht um einen haarigen Fuß weinen soll? Gilt das nicht auch für gefiederte?»
«Jetzt sei nicht so streng», mischt sich die Pflaum Burgl ein. «Wir haben nur ein bisschen was gefragt.» Sie tut ganz unschuldig.
Ihr Mann zwickt immer noch das linke Auge zu, ich glaub schon, der will mir zuzwinkern, aber dann sagt er: «Ich such seit in der Früh mein Auge, es ist mir in der Nacht, als es so gedonnert hat, vom Nachtkästchen gerollt und seither weg. Vielleicht hat deine Tochter eine Idee, wo ich noch schauen könnte.»
«Und ich wollte wissen, wie das Wetter wird und ob ich die Geranien über Nacht doch wieder vom Balkon tun soll wegen einem womöglichen Nachtfrost.» Die Pflaumin gibt ihren Senf dazu, völlig unberührt, dass ihr Mann halbblind oder halbsehend, je nachdem, durch die Gegend wandeln muss.
«Seit wann hast du eine Prothese?», frage ich.
«Das war ein Horn von meinem letzten Stier. Der Koloss wollte einfach nicht kaputtgehen.» Das Abschiedsgeschenk für einen Metzger, der in Rente geht.
Ich wende mich an die Melcherin. «Ja, habt ihr denn keinen Teletext daheim?» Da
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