Henkersmahl
Staffeleien und diversen Kisten und Kartons stand und monströs den Raum einnahm. Florian war seit Ewigkeiten nicht mehr hier oben gewesen. Als Anna die Türen des Schrankes öffnete, dachte er plötzlich, ihn träfe der Schlag. Unmittelbar vor sich sah er eine Unmenge von Kaschmirmänteln, alle ordentlich der Größe nach aufgereiht. Es waren insgesamt elf. Florian zählte ein zweites Mal, aber es stimmte, es waren tatsächlich so viele. Dies waren die Mäntel seiner Kindheit und Jugend, kein Zweifel. Mit vier Jahren hatte er den ersten Mantel bekommen, und dann war jedes Jahr ein neuer gefolgt. Seine Mutter hatte die Mäntel für ihn bei ihrem Lieblingsschneider, einem untersetzten, schnauzbärtigen Türken aus der Südstadt, der mit Nadel und Faden umzugehen verstand wie kein anderer, nach Maß anfertigen lassen. Marie-Louise liebte die feine goldbraune Kaschmirwolle über alles und hatte gefunden, dass ihr Sohn, reizend anzusehen mit seinen großen Augen und den dunklen Locken, die sich im Laufe der Jahre dann zu ihrer großen Enttäuschung weitestgehend geglättet hatten, kein anderes als dieses edle Material tragen sollte. Zum einen, weil es so leicht war und hervorragend wärmte, zum anderen, weil sie der Meinung gewesen war, dass der weich schimmernde Farbton der Kaschmirwolle unwiderstehlich gut zu Florians dunklem Haar passte und ihm ein elegantes Aussehen verlieh.
Wie hatte er diese Mäntel gehasst. Später, mit 15, war ihm eines trüben Oktoberabends während der alljährlichen Anprobe im Atelier des Schneiders inmitten Unmengen bunter Stoffreste klar geworden, dass sich seine Abneigung eigentlich nicht gegen die Mäntel, sondern gegen seine Mutter richtete. Er hatte sie dafür gehasst, dass sie ihm Jahr für Jahr ihren Willen aufzwang, und er hatte sich dafür gehasst, dass er sich ihr nie widersetzt hatte. 21 Jahre war es her, dass Florian in Suley Gülceks Atelier den entscheidenden Schritt getan und sich von ihrer erdrückenden Einflussnahme befreit hatte. Ein für alle Mal hatte er damit Schluss gemacht, denn laut und deutlich hatte er Nein gesagt. Das heißt, er hatte nicht Nein gesagt, sondern er hatte Nein gebrüllt, so laut, wie niemand es von ihm jemals erwartet hätte, am wenigsten er selbst. Nein zu ihrer tyrannischen Fürsorge, Nein zu ihrem unerträglichen Egoismus, und damit hatte er Ja zu sich selbst gesagt. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, als er sich, so viele Jahre später, die Szene noch einmal ins Gedächtnis rief. Nachdem seine Mutter und Gülcek lange an ihm herumgezupft hatten, um Nähte glatt zu streichen und den Sitz des Mantels bis ins kleinste Detail zu überprüfen, war er ausgerastet. Er hatte sich den Mantel vom Leib gerissen und in die nächste Ecke geschleudert. Anschließend war er stundenlang durch die Stadt gestreift. Als er am nächsten Morgen durchgefroren und völlig übermüdet nach Hause gekommen war, hatte Marie-Louise ihm zu seiner großen Überraschung ohne ein Wort des Vorwurfs eigenhändig ein Frühstück zubereitet. Dann hatte sie ihn in den Arm genommen und sich für alle Kaschmirmäntel seines Lebens entschuldigt, und damit war für ihn die Angelegenheit erledigt gewesen. Jetzt, wo er die Dinger vor sich hängen sah, musste Florian lächeln. So ganz hatte sich Marie-Louise also doch nicht von ihnen trennen können.
Florian strich sich über die Stirn. Über den Mann auf dem Foto hatte er von Anna leider nicht viel erfahren. Sauger, Wassereimer und Schrubber hatte er ihr die steile Stiege heraufgetragen, aber nun reichte es ihm. Er würde sich im wahrsten Sinne des Wortes gleich aus dem Staub machen. Florian hüstelte. Er wartete nur darauf, dass Anna aus der hintersten Ecke des Kleiderschrankes wieder auftauchte, um sich zu verabschieden. Als sie mit hochrotem Kopf erschien, hielt sie ein Kästchen in der Hand, das sie ihm unbeholfen mit den Worten entgegenstreckte: »Ich hoffe, es bringt dich weiter.«
20
Max lag in der erst kürzlich sanierten rechtsmedizinischen Abteilung der Uniklinik am Melatengürtel, in unmittelbarer Nähe des Melatenfriedhofs. Immer wieder empfand Florian in der Nähe des Friedhofs, der nach Moder und Verderben roch, einen leichten Schauder, so auch heute, als er auf die dunklen Hecken und hohen Bäume blickte, die das Gelände überragten. In früheren Zeiten waren hier nicht nur Leprakranke beherbergt worden, sondern es hatten auch öffentliche Hinrichtungen stattgefunden. Viele Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden,
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