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Henkersmahl

Henkersmahl

Titel: Henkersmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bärbel Böcker
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schnurrend neben ihm auf der Couch niedergelassen hatte, nahm er noch einen Schluck Rotwein und starrte auf die Kiste, die Anna ihm mitgegeben hatte.
    Er fragte sich, ob der Inhalt sein Leben verändern würde. Vielleicht kannte er nach dem Öffnen der Kiste den Namen seines Vaters, vielleicht auch seine Adresse. Sollte sein Vater in Köln wohnen, traf man sich vielleicht einmal zum Kaffee oder zum Abendessen. Was war er für ein Mensch? Florian hatte sich diese Frage schon oft gestellt. Vielleicht hatte seine Mutter, die immer behauptete, Florian könne seinen leiblichen Vater wahrscheinlich nicht ausstehen, sogar recht. Aber war sein Vater tatsächlich so verantwortungslos, wie sie ihn schilderte? Wusste er überhaupt von ihm? Marie-Louise hatte immer ausweichend geantwortet. Vielleicht hatte sein Vater nie von ihm erfahren.
    Das kleine messingfarbene Schloss war nur mit einem Haken gesichert. Florian drückte ihn langsam hoch, hob vorsichtig den Deckel an und blickte auf den Inhalt. Vor ihm lag ein Brief. Er nahm ihn heraus und war erstaunt, als er entdeckte, dass er Briefmarken aus Kanada trug, abgestempelt in Montreal. Das Datum des Poststempels konnte er nicht entziffern.
    Bevor er den Brief las, sah er etwas auf dem Boden der Kiste liegen. Ein Foto. Als Florian es in der Hand hielt und genauer betrachtete, glaubte er, darauf denselben Mann wie auf dem Foto aus Max’ Wohnung zu erkennen. Schnell stand er auf, holte es und verglich die beiden Aufnahmen miteinander. Im Gegensatz zu dem Foto aus Max’ Wohnung hielten der Mann und seine Mutter auf diesem Foto Abstand. Sein Blick fiel auf den rechten unteren Bildrand, irgendjemand hatte dort etwas handschriftlich vermerkt: ›Chapelle de Notre-Dame de Bonsecours, Montréal, octobre 1972‹. Florian begann mit geschlossenen Augen zu rechnen. Dem Datum nach zu urteilen, wäre sie im dritten oder vierten Monat gewesen. Florian sah sich den Mann noch einmal genauer an. Er war attraktiv, ohne Zweifel.
    Bevor Florian sich dem Brief zuwandte, nahm er vorsichtig einen weiteren, letzten Gegenstand aus der Kiste, ein gefaltetes Stück Papier, das die bräunlich vergilbten Spuren vieler Jahre trug. Er klappte es auseinander und traute seinen Augen nicht, er hielt eine Geburtsurkunde in der Hand. Dort stand es schwarz auf weiß:
    ›Florian Halstaff, né le 28. avril 1973, le matin sept heures et dix minutes à Montréal, Québec, Canada. Père: inconnu.‹
    Das bedeutete: ›Vater unbekannt‹.
    Florian verspürte eine leichte Übelkeit und den heftigen Drang, sich zu bewegen. Er erhob sich abrupt. In der Küche schenkte er sich ein Glas Leitungswasser ein, das er in einem Zug leerte. Dann lehnte er sich an die Arbeitsplatte seiner Küchenzeile und dachte nach. Er besaß einen deutschen Pass, in dem als Geburtsort Köln eingetragen war. Die kanadische Geburtsurkunde hatte er bisher nicht gesehen. War er nicht in Köln, sondern in Montreal geboren worden? Dann besäße er vermutlich auch die kanadische Staatsangehörigkeit. Florian fragte sich, welchen Grund seine Mutter wohl gehabt haben mochte, ihm dies zu verschweigen.
    Die Übelkeit verstärkte sich.
    Florian öffnete das Küchenfenster und sog die kalt einströmende Luft tief in seine Lungen. Als er sich nach einigen Minuten etwas besser fühlte, ging er langsam zurück ins Wohnzimmer und widmete sich dem Brief, der glücklicherweise nicht auf Französisch, sondern auf Englisch verfasst worden war und von einer gewissen Alexandra Poivrier stammte. Der Name war ihm völlig unbekannt. Ein Gedanke ließ ihn nicht los. Er fragte sich, wo Marie-Louise damals in Montreal übernachtet hatte, bei Alexandra oder bei ihm ?
    Alexandra erkundigte sich nach Marie-Louises Zustand und gab ihr gut gemeinte Ratschläge für den Umgang mit dem Baby. Alles in allem ein belangloser, freundschaftlicher Brief, der nicht die geringste Andeutung über den Vater des Kindes enthielt. Keine namentliche Erwähnung eines Mannes.
    Vielleicht würde Florian irgendwann einmal versuchen, Alexandra Poivrier zu kontaktieren. Vielleicht aber auch nicht. Er ließ seinen Kopf auf die Sofalehne sinken und stellte fest, dass er plötzlich gar nicht mehr so sicher war, ob er der Vergangenheit wirklich nachspüren sollte. Wahrscheinlich wäre, was er in Erfahrung bringen würde, eine einzige riesengroße Enttäuschung, und der reale Vater würde dem Bild, das er sich jahrelang von ihm gemacht hatte, gleichen wie David dem Goliath. Florian beschloss, die

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