Hera Lind
müssten.«
»Bitte tun Sie das nicht!«, flehte ich fast weinend. »Das ist ein ganz dummes Missverständnis, und ich werde der Sache auf den Grund gehen!« Sollte ich ihm … Geld anbieten? Wenn, dann VIEL Geld. Aber dazu hätte ich Jürgen einweihen müssen. Sollte ich zu ihm rübergehen und sagen: »Schatz, lass uns mal eben gemeinsam den Schmierenreporter bestechen«?
»Sie räumen das Gerücht folglich aus der Welt«, stellte Schaumschläger klar. »Was soll ich also schreiben?«
»Nichts! Es gibt nichts zu schreiben!« Ich fühlte mich wie auf dem Zahnarztstuhl. »Versprochen, Herr Schaumschläger?! Sie schreiben nichts?«
»Vorerst nicht«, sagte Justus Schaumschläger gnädig und packte seinen schmierigen Griffel weg. »Aber kein Gerücht entsteht so völlig aus dem Nichts. Ich bleibe dran.« Dann verabschiedete er sich mit den Worten: »Kommen Sie gut ins neue Jahr!«
»Sie mich auch!«, murmelte ich verdrossen.
Als er die Tür aufstieß, sah ich Brunhilde Zweifel gerade noch in Richtung Damentoilette huschen.
ANITA
»Mama? Frohes neues Jahr!« Grazia kam am Neujahrstag gegen Mittag verschlafen in ihrem Trägerhemdchen barfuß die Treppe hinunter. »Was ist denn los? Hast du geweint?« Sie ging erschrocken neben dem Sessel in die Hocke, in dem ich die ganze Nacht wie erstarrt gesessen hatte. »He, Mama!« In einer Aufwallung von Zärtlichkeit wischte sie mir die Tränen aus dem Gesicht. »Du hast Streit mit Papa, nicht wahr?«
Ich nickte stumm und starrte ins Leere. Seit der Anwalt gegangen war, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ralf Steiner war gestern mit seinem Porsche aus unserer Einfahrt gebrettert, um rechtzeitig »vor Ladenschluss«, wie er noch gescherzt hatte, die Scheidungspapiere einzureichen. Heute Nachmittag wollte er wiederkommen, um weitere Details zu besprechen. Ich sollte Christians Sachen vor die Tür stellen. Seine Koffer und seine persönlichen Dinge. Ursula Kobalik wollte mir beim Packen helfen.
Ich rieb mir die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Ich hatte unterschrieben! Ich hatte es getan!
»Papa hat heute Nacht mindestens zehnmal auf meinem Handy angerufen!« Grazia nahm meinen Arm, der kraftlos neben der Sessellehne herunterhing. »Ich war natürlich auf einer Party und habe es nicht gehört. Aber er hat mir auf die Mailbox gesprochen!«
Sie hielt mir ihr Smartphone ans Ohr, und ich hörte Christians vertraute Stimme. Im Hintergrund ging es hoch her. Er befand sich offensichtlich in einem Raum, in dem viele Menschen durcheinanderschrien und lachten: »Grazia! Ich komme nicht ins Haus! Ruf mich dringend zurück, ich muss wissen, was los ist!«
»Das war schon nachmittags!«, sagte Grazia. »Da war ich im Kino. Die nächsten drei sind von heute Nacht.«
»Schatz, hier ist der Papa. Ich stehe auf der Straße, es ist schweinekalt, die Leute feiern und grölen, und ich will nur nach Hause! Was ist mit der Mama?! Ich mache mir Sorgen!« Und dann: »Ich weiß, dass du feierst, Kleines, aber wenn du das abhörst, ruf mich sofort an! Irgendwas stimmt zu Hause nicht! Kann es sein, dass die Mama die Schlösser ausgetauscht hat? Sie geht nicht an ihr Handy und auch nicht ans Festnetztelefon!« Dann die letzte Meldung: »Grazia, ich bin’s. Ich bin jetzt im Hotel … Interconti. Am Stadtpark. Du weißt schon, da wo der Johann Strauß mit seiner Geige steht. Ja. Also da bin ich nun zum ersten Mal in meiner eigenen Stadt im Hotel, aber das muss man ja auch mal von innen gesehen haben.« Ich hörte, wie er sich an der Minibar zu schaffen machte. »Jetzt ist es drei Uhr früh, und die Mama schläft bestimmt schon, ich versuch’s morgen wieder. Du weißt ja: Um elf kommt das Neujahrskonzert. Schau mal rein! Ruf mich dringend an, sobald du wach bist. Ich liebe dich. Sei lieb zu Mami, ich glaub, die braucht dich jetzt. Alles wird gut. Ciao.«
Grazia war ganz weiß um ihr ungeschminktes Näschen. Aus großen braunen Augen schaute sie mich fragend an. »Mama? Kannst du mir vielleicht mal sagen, was das soll?«
Ich brauchte ungefähr sechs Anläufe, bis ich den Mut aufbrachte, meiner Tochter die Wahrheit zu sagen. Wieder und wieder kniff ich, öffnete den Mund, holte tief Luft und machte ihn wieder zu.
»Mami!« Grazia schüttelte mich am Arm. »Bist du krank? Hast du … Krebs?«
Noch nie hatte ich so fertig ausgesehen. Zitternd vor Müdigkeit richtete ich mich auf und erhaschte einen Blick auf mein Spiegelbild. Ich hatte schwarze Ringe unter den Augen, meine
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