Herbst - Ausklang (German Edition)
Lorna. »Herrgott noch mal, worauf wartest du?«
Michael hörte gar nicht hin. Er rückte wieder vor, und diesmal konnte der Tote nirgendwo mehr hin.
»Seht ihn euch an«, forderte er die anderen auf, während er das verweste Gesicht betrachtete. Er ließ den Strahl der Taschenlampe darüberwandern, erhellte das volle Ausmaß der entsetzlichen Verheerung. Die Haut – was noch nicht gefressen oder verrottet war – schien nach unten gerutscht zu sein wie bei einer schlecht sitzenden Maske, sodass unter den trüben Augen schwere Faltensäcke hingen. Michael konnte verborgene Kreaturen erkennen, die sich unter der Haut wanden. Der Mund stand offen und schloss sich nur gelegentlich halb, als brabble der Leichnam etwas Unverständliches.
»Was ist damit?«, fragte Harte.
»Vergleich ihn mal mit den Leichen, die du in letzter Zeit draußen gesehen hast. Was fällt dir auf?«
»Der hier ist noch robust«, meinte Harte, der inzwischen ruhiger wirkte und sich ein wenig näherte. »Er hat noch etwas Fleisch auf den Knochen. Einige der Dinger draußen bestehen fast nur noch aus Flüssigkeit.«
»Genau. Der hier ist wie derjenige, den wir in dem Auto eingesperrt gesehen haben.«
»Wovon redet ihr?«, wollte Kieran wissen, der sich knapp hinter ihnen aufhielt.
»Auf dem Weg hierher«, erklärte Harte, »sind wir heute Nacht durch die Toten draußen marschiert. Wir haben einen großen, aufeinandergetürmten Haufen von ihnen gefunden und nach unten gegraben, um den Grund dafür herauszufinden. Unter ihnen war ein Auto verborgen, und der Fahrer war wie der hier. Ich schätze, er ist konserviert worden.«
»Könnt ihr sie nicht einfach erledigen?«, fragte Caron. Michael schenkte ihr keine Beachtung.
»Der da sieht so aus wie alle anderen vor einem Monat«, fand Lorna.
»Kieran, wie lange ist es her, seit jemand hier durchgekommen ist?«
»Wir waren ein paar Wochen hier, als Jackson als Erster aufgekreuzt ist«, antwortete Kieran. »Und soweit ich weiß, war seither niemand hier unten. Warum?«
»Weil diese Leichen dann wahrscheinlich seit damals hier unten sind.«
»Und?«
»Also hat Harte recht. Sie sind konserviert worden. Denk mal drüber nach – hier unten herrscht vermutlich eine ziemlich konstante Temperatur ohne Wind oder Regen. Früher hat man doch Lebensmittel in solchen Kellern aufbewahrt, oder? Diesen Kreaturen hier ist es irgendwie gelungen, hier eingesperrt zu werden. Bemerkenswert.«
»Macht sie endlich fertig«, verlangte Caron erneut und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in jede Ecke, um zu sehen, ob sich noch weitere Leichname in der Nähe befanden.
So gern Lorna dieser besonders abscheulichen Kreatur selbst gern endgültig den Garaus gemacht hätte, sie begann, allmählich die Bedeutung von Michaels Anmerkungen zu begreifen. Schweigend beobachtete sie, wie er sich wieder auf die Gruppe der Leichen zubewegte, und sie alle versuchten, zurückzuweichen, als wüssten sie, dass er sie angreifen wollte. Als er jedoch innehielt und nicht weiter vorrückte, schien sich die vorderste Kreatur sichtlich zu entspannen, ließ die Schultern hängen und wogte leicht auf den Überresten ihrer Fersen zurück. Michael blieb vorsichtshalber einen Meter entfernt und leuchtete mit der Taschenlampe erneut direkt in das verschrumpelte Gesicht. Der Tote reagierte nicht. Die geweiteten, dunklen, ausdruckslosen Augen richteten den Blick langsam auf Michaels Gesicht.
»Armes Ding«, meinte Lorna, womit sie alle überraschte.
»Was soll das heißen, armes Ding?«, fragte Howard, der kaum glauben konnte, was er hörte. »Du klingst, als hättest du Mitleid! Du weißt doch, was diese Mistkerle getan, wie viel Schmerz und Kummer sie uns verursacht haben!«
»Ja, aber nichts davon war ihre Schuld, oder? Sie hatten keine Kontrolle über das, was mit ihnen geschah. Und wir auch nicht.«
»Wir sollten sie einfach loswerden«, schlug Howard vor. »Erledigen wir sie und erlösen wir sie von ihrem Elend.«
Der Leichnam schien auf seine Worte zu reagieren. Sofort wurde er lebhafter und griff nach der Taschenlampe, die Michael hielt. Der zog sie zurück und fürchtete, die Kreatur könnte nach ihm schlagen, doch das tat sie nicht. Sie unternahm lediglich einen zweiten schwerfälligen Versuch, die Lampe zu ergreifen, aber es war eindeutig die Lampe, die sie wollte, nicht Michael. Mittlerweile hatte sich das Licht all der anderen Taschenlampen auf diese spezielle Gestalt gerichtet. Alles andere als überzeugt davon, was er tat, gab
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