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Herbst - Ausklang (German Edition)

Herbst - Ausklang (German Edition)

Titel: Herbst - Ausklang (German Edition)
Autoren: David Moody
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hatte sich eine kleine Leiche in Stacheldraht verheddert. Wie lange mochte sie schon dort sein? Fetzen derselben Farbe wie die Schuluniform der anderen toten Kinder flatterten an den Überresten des Gerippes. Höchstwahrscheinlich war das arme kleine Wesen gestorben, wiederauferstanden und dann losgetorkelt, hatte es aber nicht weiter als bis dorthin geschafft. Von dem winzigen, erstaunlich weißen Schädel war jegliches Fleisch gepickt, weil sich das tote Kind nicht gegen die Vögel, Insekten und andern Aasfresser schützen konnte. Kieran versuchte, es zu vermeiden, dennoch malte er sich unwillkürlich aus, was das arme kleine Geschöpf wohl gedacht haben mochte, als es dort hilflos stand und fühlte, wie es stetig gefressen wurde. Hatte dieses tote Kind Angst gehabt? In Anbetracht dessen, was Kieran mittlerweile über die Leichen und ihre Selbstwahrnehmung zu wissen glaubte, schien die Frage durchaus berechtigt zu sein. Hatte der kleine Leichnam die letzten Monate seiner Zeit auf Erden darauf gewartet, dass seine Eltern zurückkommen würden, um ihn nach Hause zu holen, und sich gefragt, warum sie ihn überhaupt verlassen hatten?
    Sie folgten einer Anliegerstraße zwischen der Schule und dem Feld bis zu deren Ende, dann liefen sie etwa anderthalb Kilometer einen steilen und schmalen, aber relativ freien Weg hinab, bis sie eine Farm erreichten. Der Ort erwies sich als verlassen, abgesehen von einer Handvoll Hühner, die immer noch auf dem schlammigen Hof pickten, als wäre nie etwas geschehen. Mehrere unbetreute Tiere waren in Ställen gestorben, und die Überreste sechs verhungerter Kühe fanden sie in ihren Melkpferchen. Auf den umliegenden Wiesen erblickte Michael Schafspelze, allerdings konnte er aufgrund der Entfernung nicht erkennen, ob es sich um gesunde Tiere oder Kadaver handelte. Es spielte keine Rolle. Dieser Ort war so tot wie jeder andere.

53
    »Da vorne kommt ein Fluss«, verkündete Howard. »Und wir müssen auf die andere Seite.«
    »Dann gehen wir einfach weiter, bis wir auf eine Brücke stoßen«, gab Lorna zurück.
    »Meinst du wirklich, Lorna?« Howard seufzte. »Warum bin ich bloß nicht selbst darauf gekommen?«
    Das grässliche Wetter hatte seit ihrem Aufbruch nicht nachgelassen. Mittlerweile hatten sie späten Vormittag, und der Himmel sah immer noch in jeder Richtung dunkel und regenschwanger aus. Völlig durchnässt stapften sie über ein schlammiges Feld mit verdorbenem Getreide, das vor Monaten hätte geerntet werden sollen. Harte fragte sich, wie viele Millionen Pfund an Lebensmittelrohstoffen so wie hier verkommen sein mochten. Rasch berichtigte er sich in Gedanken. Es schien nicht richtig zu sein, den Dingen einen finanziellen Wert beizumessen. Pfund, Dollar, Euro – nichts davon zählte noch etwas. Er beschloss, zu versuchen, eine optimistischere Haltung einzunehmen – immerhin konnte man Getreide erneut anbauen. Es gab keinen Grund, warum das in der Zukunft nicht möglich sein sollte, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab. Ihm fielen seine Eltern ein, die jahrelang ihr eigenes Gemüse gepflanzt hatten. Er verfluchte sich dafür, dass er sich früher immer lustig über ihre Versuche gemacht hatte, autonom zu leben. Das hat doch überhaupt keinen Sinn , hatte er regelmäßig zu seinem Vater gesagt, wenn er ihn dabei beobachtet hatte, wie er sich damit abmühte, die harte Erde im Gemüsebeet am Ende seines Gartens zu bearbeiten. Lebensmittel sind heutzutage so billig, und im Supermarkt bekommt man alles, was man will. Ist echt nicht nötig, sich so zu schinden , hatte er damals stets argumentiert.
    Du hattest recht , Pa , gestand Harte nun stumm, während er weiter durch den klebrigen Matsch lief und einer vogelscheuchenähnlichen Leiche auswich, die bis zu den Knien darin eingesunken war. Harte wünschte, sein Vater, könnte miterleben, wie er Abbitte leistete. »Ihr verdammten Lehrer« , pflegte er immer zu sagen. »Ihr glaubt, ihr wisst alles über alles. Dabei erzählt ihr bloß den Kindern etwas übers Leben, obwohl ihr selbst gar nie richtig gelebt habt. Ihr geht zur Schule, ihr geht zur Universität, dann geht ihr schnurstracks zurück zur Schule. Wo liegt denn da der Sinn? Ihr verpasst doch völlig, was die wahre Welt zu bieten hat.«
    Gutes Argument, Pa , dachte Harte. Aber hätte uns irgendetwas auf das hier vorbereiten können?
    Bevor sie den Fluss erreichten, stießen sie auf eine Ansammlung von Gebäuden entlang des Wegs. Es handelte sich um ein winziges Dorf, dass
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