Herbst - Ausklang (German Edition)
ihrem Kalender an der Küchenwand zu urteilen, hatte sie ein aktives Sozialleben geführt. Lorna fragte sich, ob sie einen Freund gehabt hatte. Hatte sie ihren Eltern nahegestanden? Hatte sie die Unmengen von Taschenbüchern gelesen, die sich in ihrem Schlafzimmer und auf Regalen im Wohnzimmer stapelten? Hatte sie sich gern die DVDs angesehen, sie sich neben dem Fernseher befanden?
Jenna kennenzulernen, fühlte sich wie eine Notwendigkeit an, doch dadurch wurde auch schwieriger, das zu tun, was getan werden musste. Je mehr Lorna über die tote Frau erfuhr, desto schwerer fiel es ihr, sie bloß als eine weitere Leiche zu betrachten. Jenna ihren Namen und einen Teil ihrer Geschichte zurückzugeben, ihr Ende mit ein wenig Würde zu versehen, verlieh dem Ganzen die melancholische Anmutung einer Beerdigung, womit Lorna nicht gerechnet hatte. Sie packte die Leiche am Arm und zog sie langsam mit sich den Gang hinab in eine andere Wohnung. Unter den Fingern konnte sie die Knochen der jungen Frau spüren, da ein Großteil des Gewebes längst verwest war.
Sie sah in Jennas schrumplige Züge. Aus dem richtigen Winkel und im richtigen Licht ließen sich die Züge immer noch erkennen und erinnerten an die Frau auf den Fotos, als Lorna ihrem Dasein mit einem Buttermesser in die Schläfe ein endgültiges Ende bereitete. Sie fand es fürchterlich, dass es auf so brutale Weise geschehen musste, aber es gab keine andere Möglichkeit. Ersticken, eine Überdosis Tabletten, Erdrosseln oder Ertränken hätten nicht funktioniert. Nachdem sie Jenna beseitigt hatte, fühlte sie sich, als hätte sie soeben einen Auftragsmord ausgeführt.
Lorna kehrte in die Wohnung zurück und setzte sich müde, in gedrückter Stimmung zu den anderen. Sie war entschlossener denn je zuvor, diesen höllengleichen Ort bei der erstbesten Gelegenheit zu verlassen. Selbst wenn es damit endete, dass sie an Bord eines mit Lebensmitteln beladenen Bootes auf dem Meer trieben und Cormansey nie finden würden, wäre das noch besser, als den Rest ihres Lebens in dieser trostlosen Gruft von einem Land zu verbringen.
Sie döste immer wieder kurz ein, fand aber keinen erholsamen Schlaf. Als Michael sie alle weckte, schienen nur Minuten verstrichen zu sein.
»Es ist soweit«, sagte er, öffnete die Jalousien und ließ helles Tageslicht in den Raum fluten. »Das Unwetter ist vorbei.«
57
Die Luft draußen erwies sich als unerwartet klar und frisch. Vom Meer wehte ein kräftiger Wind herein, der vorübergehend den sonst so durchdringenden Verwesungsgestank auflöste. Der Boden präsentierte sich noch nass vom Regen, aber das Unwetter hatte sich vollkommen verzogen, und die zornigen, grauen Wolken, die den Himmel am Vortag verstopft hatten, waren verschwunden.
Draußen trieb sich eine Handvoll Leichen herum, als sie die Wohnung verließen. Sie mussten den Überlebenden entweder am vergangenen Abend gefolgt oder von ihren Geräuschen angelockt worden sein. Sie scharten sich weiter um das Gebäude, während die kleine Gruppe alles vorbereitete. Niemand erübrigte Zeit dafür, etwas wegen der Toten zu unternehmen. Sie wichen ihnen nur aus und arbeiteten weiter, da sie wussten, das Feuer würde ihnen schon bald ein Ende bereiten.
Alle sieben Mitglieder der Gruppe arbeiteten, ohne sich zu beklagen, und fanden es nun, da die Leichen nicht mehr die Bedrohung darstellten, als die sie ursprünglich wahrgenommen worden waren, unendlich viel einfacher, sich draußen aufzuhalten. Auf dem Parkplatz vor dem Wohnkomplex standen mehrere Autos, und Harte schob einige davon näher zum Gebäude. Sein Plan war einfach: Er wollte so viele Fahrzeuge wie möglich am Gebäude haben, damit sich der Treibstoff in ihren Tanks entzündete, explodierte und die Flammen ausbreitete, sobald die Hitze des Feuers, dass sie drinnen anzünden wollten, intensiv genug wäre.
Während sich Harte um die Autos kümmerte, verschwanden Michael, Kieran und Hollis in den Ort, um Kraftstoff aus weiteren Fahrzeugen abzuzapfen und in Kanister und Eimer zu füllen, die sie anschließend zurück zu den Wohnungen brachten. Lorna und Howard durchtränkten das Erdgeschoss des Gebäudes mit Benzin und öffneten alle Fenster und Innentüren. Nachdem Caron eine Weile gearbeitet hatte, setzte sie sich auf eine niedrige Steinmauer an der gegenüberliegenden Straßenseite und sah den anderen zu.
Als sie den gesamten Treibstoff aufgebraucht hatten, waren sie bereit, das Feuer zu legen. Kieran verspritzte weiteres Benzin um den
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