Herbst - Stadt
einen Morgenmantel aus Frotteestoff von einem Haken an der Rückseite der Tür und mühte sich ab, ihn anzuziehen, während sie immer noch ihr lebloses Kind wiegte. Zuerst schaffte sie es, den ersten Arm einzufädeln, dann folgte der zweite und schließlich wickelte sie das dicke Material rund um sich und ihr Baby.
Der Gang war noch kälter.
Sonya schleppte sich Schritt für Schritt voran, bis sie an Dr. Croft vorüber war. Sie konnte hören, wie sich Paulette im angrenzenden Zimmer rührte. Abgesehen von den gedämpften Bewegungen der Frau und dem Weinen einer anderen einsamen Seele auf einem anderen Stockwerk herrschte in dem Gebäude eisige Stille. Was weißt du schon über Schmerzen, fragte Sonya denjenigen, der weinte, schweigend. Wenn die anderen nur wüssten, wie sie sich fühlte.
Das Treppenhaus war noch ein wenig kälter.
Sonya tat sich schwer dabei, über die Stufen zu klettern. Sie war müde, alles schmerzte und ihr war übel. Der Arzt schien ihr jedes Medikament verabreicht zu haben, dass er gefunden hatte, um ihr zunächst die Anstrengung und dann den Kummer zu erleichtern. Das führte nun in Kombination mit dem Blutverlust und der Benommenheit zu einem reizbaren, matten Gefühl. Aber irgendwie schaffte sie es, all das zu ignorieren und sich weiterzubewegen.
Der fünfte Stock, der sechste, der siebente. Sie war sich zwar nicht sicher, wie hoch das Gebäude war, doch sie musste sich bereits irgendwo in der Nähe des Dachgeschosses befinden. Sie blieb stehen, ging einen anderen Gang zu ihrer Rechten hinunter und drückte so lange gegen alle Türen, bis sich eine öffnete. Sie führte in einen kleinen, viereckigen Raum, der jenem ähnelte, in dem sie die Nacht verbracht hatte. In einer Ecke stand neben einem billigen Frisiertisch ein Einzelbett, auf dem ein Handkoffer stand. Auf dem Tisch befanden sich eine Ansammlung von Briefen und ein paar Fotografien, auf denen eine Gruppe glücklich lächelnder Personen zu erkennen war, die sich irgendwo in einem sonnendurchfluteten Garten befanden. Vermutlich stammten die Bilder von dem inzwischen verstorbenen Zimmerinsassen und seiner toten Familie.
Sonya schmiegte ihr Baby zärtlich an ihre Brust und sah in sein graues, aber immer noch wunderschönes, Gesicht hinunter. Sie stand in der Mitte des Raumes und wiegte instinktiv ihr totes Kind, behutsam, wie um es zu beruhigen. Langsam öffnete sie den Morgenmantel und hob ihr Baby in Augenhöhe. Sie küsste seinen kalten Kopf und legte es vorsichtig neben den Handkoffer auf das Bett. Bevor sie ihre Pläne weiter verfolgte, klappte sie die Laken wieder zurück, um das kleine Mädchen warm zu halten.
Sie hob einen Stuhl mit Metallrahmen auf und warf ihn durch das Fenster.
Als das Glas zerbarst und der Stuhl in die verwesende Horde fiel, die sich vor dem Eingang des Gebäudes versammelt hatte, war die stumme Welt plötzlich mit unerwartetem Lärm gefüllt. Augenblicklich wurde ihr unerwünschtes Interesse geweckt und Abertausende der Kreaturen brandeten wieder gegen das Gebäude. Sonya beachtete sie nicht. Sie konnte jetzt hören, wie andere Überlebende in den niedrigeren Stockwerken wie wahnsinnig umherrannten und verzweifelt versuchten, herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war, da sie panisch befürchteten, dass die Sicherheit ihres kostbaren Verstecks gefährdet war. Sonya ignorierte die Ausmaße, die die plötzlichen Aktivitäten und die Panik inner- und außerhalb des Gebäudes durch ihre Schuld angenommen hatten und schleppte einen weiteren Stuhl zum zerstörten Fenster hin. Sie hob ihre Tochter vom Bett auf und hielt sie wieder fest an ihre Brust gedrückt, bevor sie auf den Stuhl kletterte, sich vorsichtig auf das Fensterbrett schob und hinsetzte. Während ihre nackten Beine in der kalten Morgenluft baumelten, saß sie schweigend da und betrachtete sorgfältig, was von der Welt und seiner verwüsteten Bevölkerung übrig geblieben war. Unter ihr befand sich eine gewaltige Ansammlung schlurfender Leichen – leerer Hüllen durchschnittlicher Menschen, die in der letzten Woche zu Boden gefallen und gestorben waren, bevor sie es irgendwie geschafft hatten, sich aus ihren würdelosen letzten Ruhestätten wieder zurückzuschleppen. Und unter ihnen befanden sich noch Millionen weiterer Leichen, die weiterhin dort lagen, wo sie am ersten Morgen gestorben waren, und verrotteten. Aber nichts davon spielte eine Rolle. Selbst die Leichen von Menschen, die Sonya gekannt und geliebt hatte und die sich irgendwo
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