Herbst - Zerfall
konnte Lorna sich nicht vorstellen – dazu verurteilt, diese tote Welt heimzusuchen, bis die physische Gestalt sich letztlich auflöste. Was hatten diese Menschen getan, um so etwas zu verdienen?
Eine halbe Stunde zuvor hatte Lorna beobachtet, wie Webb und Sean eine Leiche gequält hatten. Die mitleiderregende, von Maden zerfressene Abscheulichkeit war von Jas’ Kettensäge mitten entzweigeschnitten worden, trotzdem hatte sie sich noch bewegt. Lorna hatte mit angesehen, wie das Ding sich über den Boden schleppte und dabei den Stumpen seines Rückgrats mit einer rötlichen Schleimspur auf den grauen Pflastersteinen hinter sich herschleifte. Wie Kinder, die einen streunenden Hund ärgerten, hatten sich Webb und Sean abwechselnd mitten in den Weg des Dings gelegt, es gehänselt und bis zum letzten Moment gewartet, ehe sie sich wegrollten und die Leiche dazu verlockten, in eine andere Richtung hinter ihnen herzukriechen. Idioten. War ihnen nicht bewusst, dass dies einst ein Mensch gewesen war? Vielleicht schon. Vielleicht spielte es einfach keine Rolle mehr. Und vielleicht war sie es, deren Sicht der Dinge falsch war.
38
Webb, Sean, Amir und Harte waren betrunken. Durch den erfolgreichen Beutezug nach Bromwell und die Neuigkeiten, dass man erneut gehört hatte, wie der Helikopter vorbeigeflogen war, fühlten sie sich vorübergehend unbesiegbar. Es schien, als hätten sie alles unter Kontrolle.
Hollis und Jas beobachteten sie von der gegenüberliegenden Seite der Steelbrooke Suite aus. Hollis wurde durch den Radau, den sie veranstalteten, allmählich nervös. Der Rest der Gruppe hatte sich zu Bett begeben, er selbst hingegen würde nirgendwohin gehen, bis diese selbstsüchtigen Dummköpfe sich beruhigten. Er wagte nicht, sich auszumalen, was sie anstellen könnten, wenn man sie unbeaufsichtigt ließe, und obwohl das Hotelgelände und das umliegende Gebiet relativ frei von Leichen war, hatte er nicht vor, ein Risiko einzugehen. Webb und Sean wirkten an jenem Abend noch impulsiver als sonst, vermutlich angestachelt von den Ereignissen des Tages. Insbesondere Sean hatte sich unerwartet aggressiv gezeigt, als Hollis vor weniger als einer Stunde zu ihm gemeint hatte, er habe genug getrunken. Statt sich angesichts ihrer Uneinsichtigkeit mit ihnen anzulegen, hatte Hollis beschlossen, es wäre besser, ihnen zu geben, was sie wollten, als ließe man ein Feuer ausbrennen. Er hatte vor, dafür zu sorgen, dass sie sich in die Besinnungslosigkeit saufen würden. Es schien ihm die vernünftigste Möglichkeit zu gewährleisten, dass sie keine Dummheiten anstellen würden.
Irgendwann hörte er Schritte auf dem Gang. Er ergriff seine Taschenlampe und ging hinaus, um nachzusehen. Es war Priest, der müde und gedankenverloren wirkte.
»Bist du gekommen, um dich über den Lärm zu beschweren?«, fragte Hollis.
Priest schüttelte den Kopf. »Würde das etwas bringen?«
»Wahrscheinlich nicht. Was ist denn los?«
»Ich war gerade am Pool.«
»Und? Gibt’s ein Problem mit deinem Schoßtier?«
»Mach dich nicht über mich lustig«, seufzte er. »Sie verhält sich merkwürdig.«
»Merkwürdiger als sonst?«
»Es muss am Radau liegen, den diese Kerle machen«, erklärte Priest, nickte in Richtung der Steelbrooke Suite und krümmte sich, als Webb eine weitere Bierflasche auf den Haufen der leeren warf. »Sie ist nicht daran gewöhnt, und sie flippt deswegen völlig aus. Wir haben hier deshalb so lange überlebt, weil wir uns still verhalten und uns nicht haben sehen lassen. Was ihr jetzt tut, macht das alles zunichte.«
»Das ist jetzt ein bisschen überdramatisch. Sie lassen bloß ein wenig Dampf ab und tun dabei niemandem etwas. Pass auf, morgen Früh rede ich mit ihnen und –«
»Du verstehst das nicht«, zischte Priest, mit wütender, aber nach wie vor leiser Stimme.
»Was verstehe ich nicht?«, gab Hollis scharf zurück. »So wie ich das sehe, hast du die ganze Zeit hier drin mit dem Kopf im Sand verbracht. Du hast nicht wirklich gesehen, was draußen vor sich geht. Ich schon, und ich weiß, dass wir hier sicher sind, solange wir –«
»Komm mit«, unterbrach ihn Priest. Damit drehte er sich um und stapfte los, wodurch Hollis kaum eine andere Wahl hatte, als ihm zu folgen. Er ahnte, wohin Priest ihn führen würde – zu dem im Büro eingesperrten Leichnam, um zu betonen, worauf er hinauswollte. Nur: Worauf genau wollte er wirklich hinaus? Wie erwartet, bogen sie in den Gang, der zum Swimmingpool führte.
»Hör mal,
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