Herbst - Zerfall
Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, auch wenn sie zahlenmäßig sechs zu eins überlegen waren. Er wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit, aber niemandem von ihnen war ein sichererer Weg eingefallen, die Reaktionen der Kreaturen aussagekräftig auszuloten. Als sie am vergangenen Abend darüber geredet hatten, schien es eine vernünftige Idee zu sein. Nun jedoch, da sie sich tatsächlich hier befanden, bedrückten ihn schwere Zweifel.
Priest tauchte aus der Richtung der Steelbrooke Suite auf. Er wollte sich im Hintergrund halten, aber die anderen gaben ihm deutlich zu verstehen, dass er als Erster gehen sollte.
»Sie ist dein Baby«, flüsterte Harte.
Die Gruppe lief den gekrümmten Gang hinab und blieb unmittelbar vor dem Bürofenster stehen. Priest spähte hinein, doch es gestaltete sich schwierig, durch die Schicht von Fett und verwestem Fleisch, die über das Glas geschmiert worden war, etwas zu erkennen. Nachdem die Leiche so viel Zeit in den Schatten verbracht hatte, legte die erhöhte Menge von Flecken auf dem Fenster nah, dass sich ihr Verhalten verändert hatte. Hatte sie nach ihnen gesucht? Reeces Hund stand unter dem Fenster und schaute zu ihm auf, die scharfen, weißen Zähne zu einem stummen Knurren gebleckt.
»Wie machen wir es?«, fragte Reece. Dann sprang er zurück, als das Gesicht der Leiche am Fenster auftauchte. Die stumpfen Augen wanderten über die sechs Menschen, die sie anstarrten. Dann, vermutlich weil sie sich in der Unterzahl fühlte, wich sie ein paar stolpernde, unkoordinierte Schritte in die Dunkelheit zurück.
»Hier ist nicht genug Platz«, meinte Priest. »Wir sollten sie raus auf die Seite des Beckens schaffen.«
Nach einigen Sekunden angespannter Untätigkeit drängte sich Lorna ungeduldig an den anderen vorbei und folgte dem Flur zum Eingang zum Swimmingpool. Sie drückte die schwere Tür auf und zuckte vor Abscheu zusammen, als ihr der Geruch des abgestandenen Wassers entgegenschlug. Die Luft war eiskalt, und ein plötzliches schlagendes, klapperndes Geräusch ließ ihr den Atem stocken. Eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Beckens wurde vom heftigen Wind aufgeweht und schloss sich langsam wieder, als die Brise erstarb. Sie war noch nie hier drin gewesen, hatte bisher immer nur von draußen hineingeschaut. Es war wunderschön hier, dachte sie traurig. An einem solchen Ort hätte sie vor dem Weltuntergang gerne Zeit verbracht, wenn sie es sich hätte leisten können. Auf einer Seite des Beckens befanden sich die verschiedenen Fitnessgeräte, über die sie Jas und Harte unlängst reden gehört hatte, in der gegenüberliegenden Ecke standen Liegestühle aus Holz, alles von einer schleierartigen Schicht aus Staub und Spinnweben verhüllt. Wären die großen Fenster und die Glasdecke nicht mit wuchernden, moosgrünen Flecken überzogen gewesen, wäre durch sie der gesamte Bereich mit Sonnenlicht geflutet worden. Ihre Tagträume wurden von Hollis unterbrochen, der die Tür zum Umkleideraum aufriss. Kurz verschwand er in der Dunkelheit, um die Tür zum Büro aufzuklemmen und der Leiche freien Durchgang zum Swimmingpool zu ermöglichen.
»Komm«, rief er in die stickigen Schatten. »Du bist schon zu lang da drin, Süße. Es ist an der Zeit rauszukommen.«
Der Rest der Gruppe hielt einen Sicherheitsabstand ein und wartete. Einen Augenblick geschah nichts, dann drangen plötzlich und sehr entschlossen die Laute schlurfender Bewegungen aus dem Büro. Ein lautes Scheppern ließ Hollis zu den anderen zurückhasten.
»Kannst du sie sehen?«, flüsterte Lorna. Reeces Hündin trat platschend ein paar Schritte vor, ehe sie stehen blieb und erneut die Zähne bleckte. Normalerweise verhielt sie sich völlig still, nun jedoch gab sie ein leises Knurren von sich, als weiterer Lärm aus der Düsternis hallte.
»Noch nicht«, erwiderte Hollis und wagte sich zögerlich wieder vor. »Wartet, da kommt sie.«
Der verwesende Leichnam schleppte sich heraus ins Licht und bot einen abscheulichen Anblick. Trotz des Drecks ermöglichte das schräge Glasdach über ihnen eine bessere Beleuchtung als im Großteil des restlichen Hotelkomplexes und erst recht als in dem feuchten und trüben Raum herrschte, in dem der abscheuliche Kadaver seit fast zwei Monaten gefangen gehalten worden war.
Priest wurde bewusst, dass er sie zum ersten Mal richtig sah, und ihr verheertes Erscheinungsbild faszinierte ihn. Er verspürte zugleich Abscheu und echtes Mitgefühl, als sie linkisch
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