Herbst - Zerfall
und fühlte sich überwältigt vom grotesken Erscheinungsbild der Leiche. Jede Bewegung, die sie vollführte, verursachte mehr Schaden an ihr, dennoch hörte sie nicht auf. Reece beobachtete, wie das faulige Fleisch buchstäblich von den Knochen abfiel. Je mehr sich die Kreatur wehrte, desto übler wurde sie zugerichtet, doch was sollte sie sonst tun?
Lorna war das Ausmaß dessen bewusst, was sie bezeugte. Sie war diese Nähe zu den Toten eher gewöhnt, weshalb sie den Anblick der Verwesung und des Blutes ignorieren und sich stattdessen darauf konzentrieren konnte, was die Handlungen der Kreatur bedeuteten.
»Die Leichen draußen«, fragte sie, als Harte die Leiche wieder auf die wackeligen Beine hochzerrte, »werden die alle genauso reagieren?«
»Davon müssen wir ausgehen«, gab Hollis zurück. »Ich glaube, sie sind in der Lage, voneinander zu lernen.«
»So wie damals, als sie über die Absperrung bei den Wohnungen gekommen sind?«
»Genau.«
»Wenn sich also nur ein paar davon so verhalten ...«
»... werden wahrscheinlich Hunderte andere anfangen, dasselbe zu tun.«
»Großer Gott«, murmelte Priest und hielt sich ungläubig eine Hand vor den Mund.
»Lasst uns das Ding loswerden«, sagte Gordon und trat vor. »Bitte.«
Harte ließ die Kreatur los, die einige Schritte von ihm wegwankte. Kurz beobachtete er sie, lange genug, um zu sehen, wie sie sich umdrehte und sich wieder auf ihn zubewegte, dann stieß er sie in das Becken. Das Wasser war zäh und grün, strotzte vor Algen und Fäulnis. Das Ding fuchtelte wild mit den Armen; die hektischen, unkontrollierten Bewegungen hielt es ein paar letzte Sekunden über Wasser, ehe es schließlich unter die Oberfläche sank.
Priest sah dem Ding nach, bis es beinah außer Sicht geriet. Es bewegte sich noch immer. Selbst am Boden des Swimmingpools bewegte es sich noch immer.
48
»Helikopter«, sagte Sean schlicht und deutete aus Jas’ Schlafzimmerfenster, ehe er sich umdrehte und auf die Tür zusteuerte.
Jas schaute auf. Der Junge hatte Recht. An dem blauen, mit weißen Wolken gesprenkelten Himmel zeichnete sich wieder der Helikopter ab. Jas war überzeugt davon, dass es sich um denselben handelte, den sie zuvor gesehen hatten. Er ließ den Blick über den Himmel dahinter wandern, hielt nach dem Flugzeug Ausschau, das dem Helikopter am Vortag jedes Mal gefolgt war, hoffte inständig, es wieder zu sehen, um seine Evakuierungstheorie zu widerlegen. Scheinbar eine Ewigkeit starrte er hinauf, doch das Flugzeug war nicht da. Sein Mut sank. Seiner Ansicht nach konnte das nur bedeuten, dass ihnen die Zeit ausging.
»Kommst du nicht runter?«, fragte Harte. Sean war bereits verschwunden. Jas schüttelte den Kopf und blieb mit einem Drink in den Händen am Bettende sitzen.
»Bringt doch nichts«, gab er zerknirscht zurück. »Ich kann genauso gut von hier oben beobachten, wie das Ding wieder wegfliegt. Unnötig, dafür die Energie zu verschwenden, die Treppe runterzulaufen.«
»Nun, komm schon.«
»Nein«, beharrte er und trank einen Schluck. »Der Helikopter kommt später ohnehin wieder.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe darüber nachgedacht.«
»Und?«
»Also«, begann er, stand auf und ging gerade noch rechtzeitig zum Fenster, um zu sehen, wie der Helikopter nach links schwenkte und außer Sicht flog. »Der Umstand, dass der Flieger diesmal nicht dabei ist, verrät mir, dass ich wahrscheinlich Recht habe. Beim ersten Mal gestern ist es von Osten nach Westen vorbeigeflogen, dann kam es zurück und wiederholte dieselbe Strecke. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich glaube, diese Leute packen ihr Zeug und verschwinden. Vielleicht haben zwei Flugzeugladungen gereicht, um alle wegzuschaffen – dass sie gestern in so knappem Abstand mehrere Flüge absolviert haben, unterstreicht das irgendwie. Ich denke, den Helikopter haben sie bloß losgeschickt, um ein paar letzte Leute oder Dinge zu holen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, ich denke, es könnte das letzte Mal sein, dass sie vorbeikommen. Höchstens noch ein paar Flüge, aber das war’s dann. Sobald sie alles erledigt haben, sehen wir sie nie wieder.«
»Du könntest dich auch irren.«
»Das hoffe ich.«
Harte ließ sich Jas’ Logik durch den Kopf gehen. Seine Erklärung schien durchaus plausibel.
»Was denkst du, gehören die zum Militär oder zur Regierung?«
Jas zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Ich bezweifle, dass noch irgendwo etwas in
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