Herbstbringer (German Edition)
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Für den Moment wusste sie allerdings genug. Man war hinter ihr her. Und man wartete auf den Moment, an dem sie wieder mit Blut in Berührung kommen würde. Sie wusste zwar nicht, was dann passierte, war sich aber sicher, dass ihr Leben dann nur noch komplizierter werden würde. Noch wichtiger war allerdings, was sie auf dem Friedhof erlebt hatte – auch wenn es im Trubel der folgenden Ereignisse untergegangen war. Sie hatte das Grab ihrer leiblichen Mutter gefunden. Und nicht nur das: Alles deutete darauf hin, dass nicht alle Vampire herzlose Bestien waren. Ihre Mutter hatte sie geliebt. Das wusste sie einfach. Und was war mit Elias? Sie würde bei der nächsten Gelegenheit auf den Friedhof zurückkehren.
Ziellos strich sie durch leere Straßen. Es war Samstagmorgen, eine Zeit, in der Camdens unzählige Nachtschwärmer die Straßen längst geräumt hatten, die Touristen aber noch selig in ihren warmen Hotelbetten lagen. Normalerweise hätte sie sich über die Ruhe und Stille des Morgens gefreut. Jetzt machte es ihr umso schmerzhafter klar, wie allein sie war.
Zwar mochte sie die letzten Stunden in der Gesellschaft eines Fremden, der mehr über sie wusste, als er preisgeben wollte, und zwei untoten Theaterschauspielern zugebracht haben – aber immerhin war sie nicht allein gewesen. Sie hatte Personen um sich gehabt, die wussten, was es bedeutete, sie zu sein. Erst jetzt merkte sie, wie gut das getan hatte.
Missmutig bummelte sie weiter. Sie verstand nicht, weshalb Elias sie nicht sofort mitgenommen hatte und dass er sich erst derart um ihre Sicherheit sorgte, um sie dann den lieben langen Tag alleine in London herumspazieren zu lassen.
Je weiter sie in Richtung Innenstadt vordrang, desto belebter wurden die Straßen. Gackernde Mädchen, Reiseführer in Begleitung internationaler Touristengruppen, Shopaholics und Geschäftsmänner mit Handy am Ohr kamen ihr immer öfter in die Quere. Entnervt bog sie in ruhigere Seitenstraßen ab. Das hatte sie nicht gemeint, als sie sich gewünscht hatte, nicht länger allein zu sein.
Es war seltsam: Noch immer gab es große Lücken in ihrer Vergangenheit, und doch fühlte sie sich ihrem früheren Leben näher als dem Trubel dieser Zeit. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass sie ihre Zeit in Woods End vergaß oder sie unter Erinnerungen an ein unerwünschtes Leben unter viktorianischen Zwängen begrub.
Als sie an einem großen Comicladen vorbeikam, wusste sie, was sie dafür tun musste.
In dem gewaltigen, schrillbunten Schaufenster hatte sie etwas entdeckt, das die Erinnerung an Jake, an ihre gemeinsamen Stunden, wie einen Sturzbach über sie hereinbrechen ließ. Zwischen Postern, T-Shirts und den neuesten Comic-Kreationen aus aller Welt blickte ihr eine kleine Armada Nightmare-Before-Christmas-Figuren entgegen – die Helden jenes Films, den sie vor einer gefühlten Ewigkeit an Jakes Seite gesehen hatte.
Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wie hatte das alles nur passieren können?
Lange stand sie einfach nur da und betrachtete die Figuren. Dann beschloss sie, eine davon zu kaufen – ganz gleich, wie sehr sie mit ihrem Geld haushalten musste.
Gerade als sie sich umdrehen und den Laden betreten wollte, bemerkte sie eine Bewegung. Gespiegelt im Schaufenster, tauchte aus dem Nichts das Gesicht des Vampirs auf, der ihr in Woods End aufgelauert hatte. Er grinste anstößig und entblößte zwei gelbe Fangzähne.
Sie schrie erschreckt auf und fuhr herum.
Bis auf eine gebrechliche Dame, die sich auf der anderen Straßenseite von ihrem bulligen Hund spazieren führen ließ, war Emily allein.
Sie atmete schwer. Es war so realistisch gewesen, so glaubhaft! Und sie hatte nichts gespürt. Aber wer gab ihr die Sicherheit, dass sie es jedes Mal spüren würde, wenn sich ein Vampir näherte? Sie beeilte sich, in den Laden zu kommen, kaufte mit klopfendem Herzen eine kleine Jack-Skellington-Figur und steuerte danach schnell wieder belebtere Straßen an. Die Menschenmassen in Londons Innenstadt wusste sie plötzlich deutlich mehr zu schätzen.
Die nächsten Stunden brachte sie damit zu, die Enten im Regents Park zu beobachten, sich tunlichst von sämtlichen U-Bahn-Stationen fernzuhalten, hin und wieder ein Stückchen mit einem Doppeldeckerbus zu fahren, sich die spartanischen Schaufenstern der Oxford Street anzusehen und wahllos von Buchladen zu Buchladen zu schlendern.
Obwohl sie keinerlei Vorstellung davon hatte, was Elias vorhatte, war sie ruhig
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