Herbstfeuer
Augenblick haben Sie genug. Würden Sie gern tanzen?“
„Sehr gern.“ Lillian gab ihr leeres Glas einem Lakaien, der ein Tablett hielt, und schenkte St. Vincent ein strahlendes Lächeln. „Wie interessant. Nachdem ich ein Jahr als vollkommenes Mauerblümchen verbracht habe, erhalte ich an einem Abend gleich zwei Aufforderungen zum Tanz. Was könnte der Grund sein?“
„Nun …“ Langsam ging St. Vincent mit ihr zu der Gruppe der Tänzer. „Ich bin ein boshafter Mann, der dann und wann ein wenig nett sein kann. Und ich habe ein Mädchen gesucht, das dann und wann ein wenig boshaft sein kann.“
„Und jetzt haben Sie es gefunden?“, fragte Lillian und lachte.
„Es scheint so.“
„Was werden Sie jetzt tun, da Sie es gefunden haben?“
In seinen Augen lag ein bemerkenswerter Ausdruck. Er schien ein Mann zu sein, der zu allem fähig war – und in ihrer augenblicklichen Verfassung war das genau das, was sie wollte. „Ich werde es Sie wissen lassen“, flüsterte St. Vincent. „Später.“
Ein Tanz mit St. Vincent war eine vollkommen andere Erfahrung als mit Westcliff. Die vollkommene körperliche Harmonie, die ganz selbstverständliche Bewegung gab es hier nicht. Aber St. Vincent war geschickt und besaß Übung, und während sie sich durch den Ballsaal drehten, äußerte er immer wieder provokante Bemerkungen, die sie zum Lachen brachten. Und er hielt sie in einer Weise fest, die bei aller Respektabilität von seiner reichen Erfahrung mit Frauen kündete.
„Wie viel von Ihrem Ruf ist berechtigt?“, fragte sie ihn.
„Nur etwa die Hälfte – was mich absolut verabscheuungswürdig macht …“
Lillian sah ihn belustigt an. „Wie kann ein Mann wie Sie mit Lord Westcliff befreundet sein? Sie sind so ganz anders.“
„Wir kennen uns seit unserem achten Lebensjahr. Und eigensinnig, wie er ist, weigert sich Westcliff zu akzeptieren, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin.“
„Warum sollten Sie ein hoffnungsloser Fall sein?“
„Die Antwort darauf wollen Sie nicht hören.“ Ehe sie die nächste Frage stellen konnte, flüsterte er: „Der Walzer ist zu Ende. Und neben dem vergoldeten Fries steht eine Frau, die uns ziemlich genau beobachtet. Ist das nicht Ihre Mutter? Ich werde Sie zu ihr bringen.“
Lillian schüttelte den Kopf. „Sie sollten mich jetzt besser allein lassen. Glauben Sie mir – Sie wollen meine Mutter nicht kennenlernen.“
„Natürlich will ich das. Wenn Sie Ihnen nur ein bisschen ähnlich ist, werde ich sie bezaubernd finden.“
„Wenn sie mir nur ein bisschen ähnlich ist, dann werden Sie hoffentlich den Anstand besitzen, das für sich zu behalten.“
„Keine Angst“, meinte er gelassen und führte sie von der Tanzfläche. „Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die ich nicht mochte.“
„Diese Bemerkung werden Sie jetzt zum letzten Mal gemacht haben“, behauptete Lillian.
Als St. Vincent Lillian zu der plaudernden Gruppe von Frauen geleitete, zu der auch ihre Mutter gehörte, sagte er:
„Ich werde sie einladen, uns auf der Ausfahrt morgen zu begleiten, denn Sie brauchen dringend eine Anstandsdame.“
„Das brauche ich nicht“, widersprach Lillian. „Männer und Frauen dürfen ohne Anstandsdame eine Ausfahrt machen, wenn es sich nicht um eine geschlossene Kutsche handelt und sie nicht länger als …“
„Sie brauchen eine Anstandsdame“, wiederholte er ebenso freundlich wie beharrlich, und sie wurde ein wenig verlegen.
Sie dachte, dass sein Blick unmöglich das bedeuten konnte, was sie glaubte, und lachte unsicher. „Oder …?“ Sie suchte in Gedanken nach etwas Gewagtem, das sie sagen könnte. „Oder Sie kompromittieren mich?“
Er lächelte. „So etwas Ähnliches.“
Sie spürte ein seltsames, aber nicht unangenehmes Prickeln. St. Vincent benahm sich ganz und gar nicht wie all die Verführer, die die Romane bevölkerten, in denen Daisy so gern las. Diese schurkischen Charaktere mit ihren dichten Schnurrbärten und lüsternen Blicken logen so lange über ihre üblen Absichten, bis zu jenem alles enthüllenden Moment, da sie sich der jungfräulichen Heldin näherten und sich ihr aufdrängten. St. Vincent dagegen schien fest entschlossen zu sein, sie abzuschrecken, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich dazu aufraffen könnte, eine Frau dazu zu zwingen, irgendetwas gegen ihren Willen zu tun.
Als Lillian ihre Mutter und St. Vincent einander vorstellte, bemerkte sie den berechnenden Ausdruck in Mercedes’ Augen. In allen
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