Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Sinne des Wortes. Es erinnert mich an die Zeit meiner
Ausbildung, als zwei damalige Kolleginnen mich nicht ausstehen konnten und keinerlei
Hehl aus ihrer Abneigung machten. Ich fand das ziemlich belastend.
»Sie hat
am Chelsea College of Art and Design studiert. Du kannst Arbeiten von ihr auf deren
Homepage sehen«, fährt Tina fort. »Da haben sich Leo und sie kennengelernt. Als
sie beide in London lebten.«
Langsam
beginne ich zu verstehen, warum Marlene ein Problem mit mir hat. Das ist genauso,
als wenn man im Tierreich auf einmal den Hasen zum König ernennt.
Marlene
ist eine Klasse für sich. Meine Anwesenheit als ihre ›Chefin‹ (wie Leo es so ungeschickt
ausgedrückt hat) muss eine echte Beleidigung für sie sein.
Wieder mal
seufze ich. Ja, ich bin wie ein Hase. Ich fürchte mich vor dem Löwen, und ich mag
Stress nicht, ja, ich behaupte sogar, ich kann nur halb so gut arbeiten, wenn ich
nicht entspannt bin.
Abgesehen
davon, wer weiß, ob Marlene nicht auch fähig ist, meine Arbeit zu sabotieren. Wie
Lila damals, als sie neidisch war. Ein weiteres geplatztes Kleid auf einer Berliner
Bühne, dann ist mein guter Ruf als Schneiderin für immer ruiniert.
»Was ist
los?« Tina holt mich aus meinen finsteren Grübeleien zurück.
»Glaubst
du, es wird alles gut? Ich meine das Arbeitsklima und so.«
»Mach dir
keinen Kopf. Marlene ist wie ein Löwe, brüllt rum, aber beißt nicht.«
Lustig,
dass sie auch an Wildkatzen gedacht hat. Allerdings hat sie in Biologie wohl nicht
richtig aufgepasst. Löwen brüllen und beißen.
Um mich
abzulenken, erzähle ich Tina die Geschichte von meinem wunderschönen Kleid für Eva
Andrees, dessen Naht vor laufenden Kameras mir nichts, dir nichts am Hintern der
Schauspielerin aufgegangen ist.
»Ach, du hast das verbockt?«, fragt sie lachend. »Mit der Aktion bist du allerdings berühmt
geworden. Das ist viel genialer als eine Kunsthochschule in London, glaub mir mal.«
Tinas Humor
ist ein wenig zweifelhaft. Ich beeile mich hinzuzufügen, dass ich im Grunde nichts
für diese Panne konnte.
»Du machst
dir zu viele Gedanken«, wiederholt sich meine Kollegin. »Leo und ich, die Hauptdarsteller
… Wir stehen alle hinter dir. Neid und Sticheleien, die gehören dazu. Teilweise
handfeste Intrigen. Willkommen am Theater, Rosa! Wenn du das nicht aushältst, dann
wird es hier nicht lustig für dich.«
Ich schlucke.
»Du verdankst
deinen Job einem der besten Regisseure weltweit. Er hat dich aus einer kleinen Schneiderbude
im Wedding geholt, obwohl du außer ein paar Zeichnungen und deinem zweifellos gewaltigen
Talent nichts aufzuweisen hast. Das ist wie Cinderella und Aschenputtel gleichzeitig.
Und du denkst, dann wirst du von allen mit offenen Armen empfangen?«
»Findest
du das auch?«
»Was?«
»Na, dass
ich eine Art Eindringling bin?«
»Weißt du
was?«, fragt Tina und schiebt ihren Teller beiseite. »Ich lade dich heute Abend
ein. Wir besiegeln unsere Zusammenarbeit mit einem richtig schönen Besäufnis. Morgen
hörst du dann mit dem ganzen Gezöger, Geschlotter und Gejammer auf und zeigst mal,
was du drauf hast.«
Etwas Ähnliches
hat Leo auch schon gesagt.
Die beiden
haben recht. Wenn ich mich nicht bis auf die Knochen blamieren will, muss ich so
sein wie an dem Tag, als ich die Kostüme entworfen habe. Ganz bei mir und hundertprozentig
bei der Sache. Sonst wird das nichts.
»Einverstanden«,
sage ich lachend. »Und übrigens: Cinderella und Aschenputtel sind ein und
dasselbe.«
Tina prustet
beinahe ihre Ingwer-Bionade über den Tisch. »Na, siehst du! Also lass uns nähen
gehen, okay, Prinzessin!«
*
Am nächsten Morgen grinst Marlene
sehr zufrieden, als Tina und ich zeitgleich die Werkstatt betreten. Na ja, kein
Wunder, ich sehe aus wie eine der Untoten aus unserem Musical – blass, mit schwarzen
Augenringen, die auch mein sauteurer Chanel-Concealer nicht zu übertünchen in der
Lage war. Dazu kommt eine wilde ›Schnaps mit Zahnpasta gemischt‹-Fahne.
Ich habe keine Ahnung, wie viel
ich gestern getrunken habe. Ich weiß nur noch, dass ich mit Tina in einer Bar irgendwo
in Schöneberg versumpft bin, zuerst allein, dann in Gesellschaft irgendwelcher spendierwütiger
Typen, die ganz klar davon ausgingen, dass Alkohol widerspenstige Mädchen gefügig
macht. Aber noch ehe einer der Herren mich abschleppen konnte, tat es Tina.
»Boah, sind die Typen aufdringlich«, schimpfte sie und zerrte
mich nach draußen.
Die frische Oktoberluft traf mich wie
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