Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
Zwischen alten Eichen, Apfelbäumen, Kornfeldern
und Mohnblumen. Wenn ich ganz fest die Augen schließe, sehe ich das stattliche Gut
mit der pappelgesäumten Auffahrt deutlich vor mir. Auf der Koppel grasen kräftige
Pferde. Hinter dem Haus reifen im Herbst Birnen und Haselnüsse. Nur zu gern werde
ich ein paar Wochen dort verbringen. In meinem Haus!
Vor Jahren
hat Vater das Gut samt Ländereien auf meinen Namen überschreiben lassen. Zur Sicherheit,
wie er es nannte, damit ich ein Auskommen hätte für den Fall, dass er sein Vermögen
bei Geschäften oder durch unglückliche Umstände verlieren würde. Wie klug und weise
von ihm. So hat er mir ein Stück Unabhängigkeit geschenkt. Unabhängigkeit … ein
Wort, das mir vor Kurzem noch bedeutungslos erschien, doch unter den momentanen
Umständen zunehmend an Wichtigkeit für mich gewinnt. Denn ich bin sicher, wenn sich
herumspricht, dass ich die Verlobung mit Friedrich von Oranienbaum gelöst habe,
wird mich kein anderer angesehener Mann mehr heiraten wollen. Wie Mutter so treffend
sagte: Ich habe die ganze Familie unmöglich gemacht.
Ich werde
in den kommenden Tagen ein Testament aufsetzen. Gewiss werde ich noch lange nicht
sterben, aber es ist mir wichtig, es meinem Vater gleichzutun und für den Fall aller
Fälle zu verfügen, dass das zauberhafte Kletzin nach meinem Tod stets einem meiner
weiblichen Nachkommen gehören soll! Wie schnell kann eine junge Frau ohne Besitz
heutzutage in schwierige Umstände geraten.
Während ich meine Sachen für
die Reise packe, tropfen dicke Tränen aus meinen Augen. Es tut mir leid, meiner
Mutter so wehtun zu müssen. Aber ich kann nicht anders. Auch wenn ich deshalb für
immer allein sein muss. Ich werde von nun an nur mehr tun, was mein Herz mir sagt.
Wahnsinn! Augusta ist eine ganz
neue Person geworden. Es ist, als wäre sie aus einem langen Dornröschenschlaf aufgewacht
und hätte plötzlich den Durchblick. Sie erwähnt Wendelin mit keinem Wort mehr. Und
deshalb bin ich mir sicher, dass sie die Verlobung nicht nur seinetwegen gelöst
hat. Sie hat es zu allererst für sich selbst getan, für ihr Glück und vor allem
für ihren Stolz.
Augusta,
du bist einfach klasse! Das muss ich gleich morgen Vicki erzählen.
Es ist schon
ziemlich spät, aber ich beschließe, obwohl mir fast die Augen zufallen, noch etwas
weiterzulesen. Denn leider bin ich mir fast sicher, dass Schurke Friedrich sich
nicht einfach kampflos geschlagen gibt.
Kletzin,
13. November 1912
Lange bin ich nicht mehr so
frei und glücklich gewesen.
Gerade habe
ich einen langen Spaziergang gemacht, dabei die letzten Nüsse aufgesammelt und in
den großen Korb vor den Ofen gelegt. Da können sie trocknen und ihr herbwürziges
Aroma entfalten. Vor dem Weihnachtsfest werde ich sie in Goldpapier wickeln und
den fünf Kindern meines Verwalters schenken, auf einem Teller, zusammen mit roten
Äpfeln und den dunkelbraunen Pfefferkuchen, die sie so lieben.
Die Sonne
scheint. Vom grauen November keine Spur.
Ich bin
– abgesehen von Johannsens, meiner emsigen Verwalterfamilie – ganz allein hier draußen.
Mehrmals in der Woche besucht mich der Kletziner Pfarrer. Meine Eltern haben ihn
beauftragt, mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Ich verspreche ihm folgsam,
in mich zu gehen und meinen Entschluss zu überdenken. Aber tief in meinem Innern
bin ich sicher, dass meine Eltern mich längst verstanden haben und ich in Kletzin
bleiben darf, bis Friedrich die gelöste Verbindung akzeptiert und sich beruhigt
hat. Sie lieben mich ja und wollen, dass ihre Tochter glücklich ist.
Ich bin
noch jung. Das Leben liegt vor mir und hier draußen bin ich so froh wie nie zuvor.
Ich hoffe, ich darf sehr lange auf Gut Kletzin bleiben. Genau genommen möchte ich
für immer hier leben, sehen, wie im Frühling die Obstbäume blühen, zu Ostern die
Lämmer und Fohlen geboren werden, im Juni die Kirschen reifen und im Sommer die
sattgelben Birnen durch das Laub schimmern. Vielleicht könnte ich im nahen Dorf
als Lehrerin arbeiten. Ich habe Freude an den fünf kleinen Johannsens und liebe
es, ihnen vorzulesen und Geschichten zu erzählen. Oh, das wäre einfach wunderbar
und Mutter müsste sich niemals Sorgen machen, dass ich keinen Ehemann finde. Ich
brauche ja gar keinen, um froh und glücklich zu sein.
Wenn irgendwann
einmal die Verlobung mit Friedrich vergessen ist, werde ich vielleicht Wendelin
Hegelow bitten, mich auf Gut Kletzin zu besuchen.
Aber zuerst
werde ich meiner
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